Ausgabe 7/98 | Seite 6 | |||||
Rückfall in die Barbarei
In den Neuen Bundesländern sind nach den Kolonisten Missionare gefragtDie Szene stammt aus einem Film: "Das haben mir die Wilden angetan, drüben in Neu-Frankreich", sagt der Jesuitenpater - gerade vom Amerikanischen Kontinent zurückgekehrt - zu dem jungen Priester, der ihm bei der Messe zur Hand gehen soll. Sein Kopf ist von grausamen Narben entstellt, dort, wo sich ehemals seine Ohren befanden. Ähnlich entsetzt wie jener Priester mögen heute westdeutsche Zeitgenossen auf Berichte reagieren, die aus den Neuen Ländern zu uns dringen. Dort ist von Angriffen ostdeutscher Jugendlicher auf Schüler aus Berlin und Westdeutschland die Rede, welche sich auf Klassenfahrt befanden. Schüler einer Kreuzberger Schule wurden bei einer Ausflugsfahrt, die sie auf brandenburgisches Gebiet geführt hatte, von einheimischen Jugendlichen an einer Bushaltestelle angegriffen. Der Angriff richtete sich gezielt gegen ausländisch aussehende Mitschüler - ein Türke und ein Dunkelhäutiger, die mit Faustschlägen traktiert wurden. Der Klassenlehrer brach darauf hin die Fahrt ab. Vorfälle wie dieser häufen sich in letzter Zeit, so daß bereits zahlreiche Berliner Schulen wegen des "unkalkulierbaren Risikos" Fahrten in die "feindlichen" neuen Länder untersagt haben. Das brandenburgische Innenministerium empfiehlt Lehrern, nicht ohne Handy "allein in die Wallachei" zu fahren.
Wer anders aussieht, lebt gefährlichDie Übergriffe von Jugendlichen in den neuen Ländern auf "Andersartige" häufen sich in letzter Zeit. Nicht nur von Berliner Schulen, auch aus Hannover, Oldenburg und anderen westdeutschen Städten wurden solche Vorfälle beschrieben. Wie zur Zeit der Entdeckungsreisenden, die bei ihren Vorstößen ins unzivilisierte Hinterland auf das Territorium angriffslustiger Stämme gerieten, ist Ostdeutschland - zumindest für Nichtdeutsche mit dunklerer Hautfarbe - verbotenes Gebiet: Die Einheimischen wünschen keine Fremden auf ihrem Territorium, lautet die Botschaft. Erklärungen für diese Verhaltensweisen bietet nicht nur die Verhaltensforschung, sondern auch Befragungen unter Jugendlichen selbst an. Dabei kommt folgendes heraus:
Politiker kümmern sich nicht um wichtige DingeDas größte Problem, das die Jugendlichen sehen, ist ihre eigene Zukunft: die Arbeitslosigkeit. Bei einer Umfrage von Schülern im Landkreis Hannover, die bei zweihundert Neunt- und Zehntkläßlern an Gymnasien, Realschulen und Hauptschulen durchgeführt wurde, gaben 97 Prozent der befragten Schüler dies als das drängendste Problem an. "Politiker kümmern sich nicht um die wichtigen Dinge", war die mehrheitlich vertretene Meinung der Jugendlichen. Die allgemeine Verbesserung der Lebensperspektiven für die Jugend und die Bekämpfung der Kriminalität waren die als besonders wichtig empfundenen Themen - Themen, die das Überleben der jungen Generation und damit der Gesellschaft insgesamt betreffen. Da die Politik also nach Meinung der Jugendlichen nicht willens oder nicht fähig ist, die Probleme anzupacken, werden sie selber tätig - auf die einzige Art und Weise, die ihnen zur Verfügung steht. In Ostdeutschland ist die Perspektivlosigkeit um ein Vielfaches schlimmer als in den reicheren alten Bundesländer. Wer nichts zu erwarten und nichts zu verlieren hat, schreckt auch vor nichts zurück. Daß die Lehrer und Schüler westdeutscher Schulen die gefährlichen Jagdgründe der Ostdeutschen in Zukunft meiden werden - wer könnte es ihnen verdenken?
Welches Werk könnte gottgefälliger sein?Der Schluß der eingangs erwähnten Filmszene ist schnell erzählt: "Ich fahre wieder nach Neu-Frankreich", sagt der Jesuit, "dort gibt es so viele Seelen zu retten. Welches Werk könnte gottgefälliger sein?" Aber wo sind die Missionare des 21. Jahrhunderts, die den "Rechtsextremen, die sich wie die Wilden aufführen," die Botschaft vom demokratischen Heiland bringen, der alle Menschen lieb hat? Wo sind insbesondere die Politiker, die sich auf das gottgefällige Werk der Sozialpolitik besinnen. Wie lange wird es noch dauern, bis sich bei der Mehrheit die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß Demokratie nicht zum Nulltarif zu haben ist? Wer klärt die Unbelehrbaren darüber auf, daß das Wort Demokratie "Volksherrschaft" bedeutet, und daß an der Spitze von Großkonzernen, Aufsichtsräten und Banken keine neuen Götter sitzen, denen immer größere Steueropfer dargebracht werden müssen, damit das Licht ihrer Gnade auch auf den Arbeitsmarkt für die armen Sterblichen fällt? Welches Werk könnte angesichts der Entwicklungen, wie sie derzeit in unserem Land, besonders in den Landesteilen, die man die "neuen" nennt, sichtbar werden, welches Werk könnte gottgefälliger sein als dieses: Den Reichtum unserer Gesellschaft wieder etwas ausgewogener zu verteilen - und dies auch und gerade mit Hilfe der Steuerpolitik, wenn es anders nicht zu machen ist? tog
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