Oldenburger STACHEL Ausgabe 7/98      Seite 16
 
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Alarmstufe 2: Störfall im Kernkraftwerk Unterweser/Esenshamm

Atomkraftgegner fordern: Esenshamm abschalten

"Und aus dem Chaos erklang eine Stimme und sprach: Lächle und sei froh, denn es könnte schlimmer kommen. Und ich lächelte und war froh, und es kam schlimmer."

Sie sind im Moment nicht zu beneiden, die Verantwortlichen der deutschen Atomindustrie. Da prasseln jetzt von allen Seiten die Angriffe auf sie ein, da heißt es Kopf einziehen und hoffen, daß das alles irgendwann ein Ende hat - spätestens nach der Bundestagswahl im Herbst. Und als ob der ganze Wirbel um verstrahlte Castortransporte nicht schon schlimm genug wäre, jetzt auch noch das: ein Störfall der Kategorie 2 im Atomreaktor bei Esenshamm.

Für den Oldenburger Energierat und andere Atomkraftgegner kommt dieser Störfall nicht unerwartet. "Wir haben vor solchen Unfällen seit Jahren gewarnt", heißt es dazu in einer Stellungnahme von Ingo Harms vom Oldenburger Energierat. "Das Atomkraftwerk Esenshamm war schon bei seiner Fertigstellung im Jahre 1976 veraltet. Seine Baupläne stammen aus den 1960er Jahren, als mit dem Betrieb kommerzieller Atomreaktoren wenig Erfahrung vorlag. Der Reaktor wird von einer nur 80 cm dünnen Prallkuppel abgeschirmt, die den heutigen Standardwert von 200 cm deutlich unterschreitet und den Reaktor im Falle eines Flugzeugabsturzes vor Beschädigungen nur bedingt schützt. Außerdem besitzt der Reaktor keinen Berstschutz, was bei einer explosiven Kernschmelze zur sofortigen Freisetzung tödlicher Mengen Radiaktivität führen würde. Die im Auftrag der Bundesregierung 1990 fertiggestellte Deutsche Sicherheitsstudie Phase B stellt fest, daß eine Kernschmelze mit 98 Prozent Wahrscheinlichkeit zu explosiven Freisetzungen führt. Vom Unfall bis zur Freisetzung bleiben nur drei bis fünf Stunden Zeit für Evakuierungsmaßnahmen."

- Das wäre der atomare SuperGAU.

Schwerster Reaktorunfall seit 1987

Bei dem Störfall, der sich am 6. Juni in Esenshamm ereignete, handelt es sich nach Darstellung des Umweltministeriums in Hannover um den bisher schwersten Reaktorunfall in Niedersachsen. Nachdem die Preußen Elektra als Betreiberin zunächst eine "Störung" gemeldet hatte, war der Vorfall nach der Bewertung durch unabhängige Sachverständige und in Abstimmung mit dem Umweltministerium in die Kategorie 2 der siebenstufigen internationalen Skala eingestuft worden. Ein "Störfall" der Stufe 2 beinhaltet einen begrenzten Ausfall von Sicherheitssystemen, ohne daß Radioaktivität freigesetzt wird.

Im Fall von Esenshamm war eines von vier Sicherheitsventilen im zweiten, nicht atomaren Kreislauf der Anlage nicht funktionsfähig, was zur automatischen Schnellabschaltung des Reaktors geführt hatte. Das betroffene Sicherheitsventil war während einer vorangegangene Überprüfung des Reaktors im Mai abgeschaltet und anschließend vergessen worden. Beim Wiederanfahren stieg der Druck im Frischdampfsystem plötzlich an. Ein Kraftwerksexperte meinte dazu, es habe seit 1987 keinen vergleichbar schweren Vorfall in einem deutschen Atomkraftwerk mehr gegeben. Damals war im Atomkraftwerk Biblis kurzfristig radioaktiver Dampf freigesetzt worden.

Schwachstellen analysieren

Der Oldenburger Energierat kommentierte dies auf die ihm eigene Weise: "Selbst kritische Fachleute hätten keinen derart primitiven Stand deutscher Reaktorsicherheit erwartet. Seit Jahren fordern Umweltverbände und unabhängige Experten eine Schwachstellenanalyse für das veraltete AKW Esenshamm. Die Niedersächsische Landesregierung hat dies jedoch bisher verhindert. Damit ist sie verantwortlich für die Störfälle und ihre Folgen." Die Landesregierung habe im Jahre 1993 zwar eine solche Sicherheitsüberprüfung zugesagt und eine Kommission unabhängiger Experten einberufen. Diese habe im Ergebnis ein vorangegangenes TÜV-Gutachten bestätigt, wo als Schwachpunkte z.B. die Auslegung des Notstandssystems, Mängel beim Brandschutz, Störfallkomponenten im Sicherheitsbehälter und weitere , insgesamt 14 Schwachstellen aufgelistet wurden. Der damit bewiesene dringende Handlungsbedarf sei jedoch von der Landesregierung ignoriert und die Fachkommission 1994 aufgelöst worden. Die jetzt aufgetretenen Störfälle seien eine Folge dieser Fahrlässigkeit.

Lücken im Sicherheitskonzept

Auch nach Einschätzung von Experten des Darmstädter Ökoinstitutes sind die offenbarten Lücken im Sicherheitskonzept des AKW Esenshamm gravierend. Es gehe dabei nicht um einen Bedienungsfehler der Mannschaft, wie das Umweltministerium in Hannover es nach dem Störfall dargestellte. Vielmehr habe das Sicherheitssystem nicht gegriffen und müsse deshalb auf den Prüfstand.

Niedersachsens Umweltminister Jüttner, der das AKW Esenshamm am 24. Juni besucht hatte, sagte gegenüber der Presse: "Es ist erschreckend, daß so viele Bedienungsfehler unbemerkt bleiben konnten." Der Störfall stelle die Sicherheitspraxis in allen Atomkraftwerken in Frage. In Esenshamm habe es eine ganze Kette von Einzelfehlern gegeben. Das Sicherheitssystem müsse so verbessert werden, daß es frühzeitig Alarm schlage.

Und es kam schlimmer...

Am 3. Juli meldete die Hannoversche Allgemeine Zeitung: "Aus bisher unbekannter Ursache hat sich im Kernkraftwerk Unterweser ein soeben aus dem Reaktor ausgebautes Brennelement bei Inspektionsarbeiten an einer Plattform verkantet." Da das Brennelement innerhalb der Reaktorkuppel radioaktive Gase freisetzen würde, wenn es bei der Bergung beschädigt werden sollte, sollten der TÜV und weitere Sachverständige klären, wie das Problem gefahrlos bewältigt werden könne. In einer ersten Einschätzung bezeichnete ein Sprecher der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit in Köln den neuen Vorfall als "weniger bedeutsam", räumte aber gleichzeitig ein, daß ein solcher Fall seines Wissens in Deutschland noch nicht vorgekommen sei.

Einfach abschalten?

Die Störfälle in Esenshamm sind nach Ansicht der Anti-AKW-Bewegung ein weiterer Beweis dafür, daß die Bevölkerung nicht vor Freisetzungen von Radioaktivität sicher ist. Ihre Schlußfolgerung lautet: Sofort abschalten!

Hier rückt die Bundestagswahl am 27. September ins Blickfeld, denn die Forderung "Einfach abschalten" ist ja nicht neu und passiert ist bislang wenig.

Die Kritik an der Atomindustrie ist zwar zur Zeit populärer denn je, aber für einen endgültigen Ausstieg aus der Atomenergie braucht es mehr als Lippenbekundungen.

Die Grünen wollen ein Ausstiegsgesetz, Oskar Lafontaine sieht eine Volksabstimmung als das geeignete Mittel und Gerhard Schröder möchte Bundeskanzler werden. "Atomausstieg? Schau´n mer ´mal!"

Auf den Punkt gebracht hat es die atompolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, die kürzlich in Oldenburg war: "Wer heute sagt, daß ein Ausstieg 30 Jahre dauert, der spricht nicht von einem Ausstieg aus der Atomenergie." Das sollte uns, meine ich, zu denken geben.

tog

 

 
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