Ausgabe 12/97 | Seite 13 | |||||
Scheiße: Und dann mußte ich leben!
Mir ging es so ganz gut, denn als Seele und Körper, ohne Gefühle konnte ich mein Dasein noch mit Freuden erleben. Ich hatte nicht viel zu tun. Zweimal am Tag, für je zwei Stunden, rief ein Oberengel uns zu sich und wir hatten Geburtsvorbereitung und Überlebenstraining. Wir schauten uns Filme an, was so alles geschehen kann, wenn wir in einem Körper einziehen und ins Leben, in die Welt geboren werden. Wir bekamen sehr viel Scheiße zu sehen, und ich dachte nur: Hoffentlich erwische ich, ein vernünftiges Elternpaar, einen gesunden Körper und ein gutes Geburtsjahr. Wieder einmal war unser Training vorbei, als plötzlich die Alarmglocke ertönte. Scheiße, Scheiße und noch einmal Scheiße, denn das hatte nichts Gutes zu bedeuten. Alle Seelen liefen so schnell sie konnten in die Versandabteilung, und wir schauten gespannt auf die große Leinwand vor uns, auf der wir den Lagebericht erwarteten. Beim Lagebericht erfuhren wir schon das Meiste, was uns erwartete, wenn wir in diesen oder jenen Körper gingen. Es war immer sehr aufregend, und man mußte gut aufpassen, denn die schönsten Körper, Familien, Lebenswege waren schnell vergeben, und wer nicht schnell genug war, bekam das, was noch blieb, und das war meistens der letzte Scheiß. Heute war alles ganz anders als sonst. Ein Oberengel kam - es war der Versandleiter - und er sagte zu uns, daß es heute nur einen Fall, einen ganz besonderen Notfall gäbe. Wir sollten gut aufpassen, damit wir unsere Entscheidung auch richtig treffen könnten. Ich war sehr gespannt, lehnte mich im Sessel zurück und wartete auf das, was da kommen sollte. Es war ein sehr schönes Seelenleben. Ich schaute mir die zukünftigen Erden- oder Menschenleben an und wartete, bis ich etwas Passendes für mich finden würde. Auf der Leinwand erschien unser Erzähler. Er begrüßte uns, holte einmal tief Luft und fing wie immer mit den Worten an: "Es wurde ein Mensch gezeugt! Hier ist eine 30jährige Frau, die ihre viertes Kind zur Welt bringen wird. Die Schwangerschaft wird sehr anstrengend verlaufen, denn diese Frau hat schon drei Kinder, wenig Ruhe und nimmt kaum Rücksicht auf ihren Körper. Die Entbindung wird am 24.10.1950 sein. Es wird eine Hausgeburt, die problematisch verläuft." Ich war irgendwie angetan davon und erwartete gespannt die folgende Kurzinformation. "Es wird ein Junge werden, der nicht erwünscht ist, da die Mutter schon drei Jungen hat und sich ein Mädchen wünscht. Das Baby wird kaum Beachtung finden und sich sehr oft selbst überlassen sein. Die ersten sechs Jahre wird es kaum beachtet, denn es dreht sich alles um die drei älteren Geschwister. Es muß sehr früh lernen zu verzichten - auf Wärme, Geborgenheit, Zuwendung, Verständnis und Elternliebe." Ich dachte mir: Das ist doch zu ertragen und hörte dem Erzähler weiter zu. "Mit sechs Jahren wird dieser Junge eingeschult. Er wird ein guter Schüler sein und gern zur Schule gehen. Die nächsten vier Jahre aber werden sehr problematisch werden. Seine Brüder werden ihn oft verprügeln. Seine Mutter kümmert sich nicht um ihn, und sein Vater wird sehr schwer herzkrank, bettlägerig und hat genug mit sich selbst zu tun. Mit neun Jahren muß er seinen fünf Jahre älteren Bruder öfter mit der Hand befriedigen und, wenn er sich weigert, wird er verprügelt, bis er blutet und weint. Er wird versuchen nicht zu weinen und somit eine Menge Prügel einstecken, weil seine Brüder sehen wollen, daß er weint." Ich lehnte immer noch ganz zufrieden in meinem Sessel zurück und dachte mir, daß ich in so einem Menschen als Seele nicht leben möchte. "Mit zehn Jahren darf er bei seiner Mutter am Geschlechtsteil spielen. Von den Freiern seiner Mutter wird er häufiger verprügelt werden. Liebe lernt er nicht kennen. Seine Mutter beachtet ihn nicht, und er wird lernen, sie zu hassen. Sein Vater kann sich nicht um ihn kümmern, und am 16.10.1962 um 12:10 Uhr wird sein Vater sterben. Mit zwölf Jahren wird er das erste Mal Sex mit einer Nutte haben. Seine Brüder verlassen das Elternhaus, und er landet mit zwölf Jahren in kriminellen Kreisen, weil er Wärme, Nähe, Verständnis und Anerkennung sucht, die er bei seiner Mutter nicht finden kann, aber bei diesen älteren Jugendlichen, die ihm ein Ersatzzuhause bieten. Er wird mit vierzehn Jahren ins Erziehungsheim kommen. Mit Sechzehn kommt er ins Gefängnis und wird dann bis zu seinem sechundzwanzigsten Lebensjahr insgesamt über sieben Jahre dort zugebracht haben. 1976, er wird gerade zwei Monate aus dem Gefängnis entlassen sein, wird er heiraten. Er wünscht sich Kinder, eine Familie, eine Frau, die er lieben kann. Er wird vier Kinder zeugen, doch den Kindern nie ein Vater sein. Die ersten Ehejahre verlaufen gut. Er wird sich immer mehr um seine Kinder kümmern müssen, da seine Frau keinen Kontakt zu den eigenen Kindern bekommt. Nach einigen Ehejahren wird er anfangen, desöfteren Alkohol zu trinken. Er wird abhängig, Alkoholiker. Er wird seine Kinder verprügeln, seine Frau schlagen, und nach 18 Ehejahren wird er sich scheiden lassen. Er wird sehr schwer am Herzen erkranken wie sein Vater. Er bekommt zwei Herzinfarkte, wird am Herzen operiert, bekommt zweimal einen Herzstillstand und wird sich bis ins Delirium saufen. Seine Kinder werden ihn verachten, denn die Prügel, die er ihnen geben wird, wird das Seelenleben der Kinder zerstören. Im Jahr 1996 wird er versuchen, sich das Leben zu nehmen. Doch es funktioniert nicht. Er wird leiden, unter Einsamkeit leiden. Es wird ihm sehr, sehr schwer fallen, seine Schuld zu ertragen. Sehr spät, 1997, wird er erfahren, verstehen, was Liebe bedeutet. Er wird versuchen, einen anderen Weg zu gehen. An dieser Stelle möchte ich meinen Bericht beenden, denn ich glaube, es reicht Euch schon, um eine Entscheidung zu treffen." Die Leinwand wurde dunkel, der Versandleiter kam und fragte: "Welche Seele möchte in diesem werdenden Menschen leben?" Keine, keine Seele meldete sich, und auch ich hatte die Nase voll. Der Versandleiter fragte noch einmal, aber auch jetzt meldete sich keine Seele. So schaute er sich um und sein Blick fiel auf mich. Und dann sagte er zu mir: "Du, du bist es. Du wirst Jürgen Saupe werden!" Ich war sprachlos und dachte nur noch: Scheiße - jetzt werd'ich geboren und muß leben!
js
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