Oldenburger STACHEL Ausgabe 5/97      Seite 3
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Buchhinweis: Flüchtlinge -

Menschen mit Gesichtern

Flüchtlinge sind nicht mal mehr einen Streit wert.

Laut hallt das Getöse in Bonn um die zukünftige Regierungspolitik. Wenn auch die inhaltlichen Differenzen oft gering sind, vor den Medien erwecken die Regierungsparteie n und die im Bundesrat mitregierende SPD den Anschein eines heftigen Streites. Die potentiellen WählerInnen sollen auf jeden Fall den Eindruck bekommen, daß sie sich soweit wie möglich gegen schmerzliche Einschnitte gewehrt haben.

Große Koalition für Sozialhilfekürzung

Die WählerInnen - aber ein Teil der Bevölkerung ohne deutschen Paß war diesen Parteien nicht einmal einen Streit oder eine Schau wert. Über Bürgerkriegsflüchtlinge und AsylbewerberInnen einigten sich CDU, CSU, FDP und SPD schnell und leise. Nur über eine kleine Pressenotiz erfuhr die deutsche Öffentlichkeit, wenn sie es überhaupt zur Kenntnis nahm, daß am 23.4. der Vermittlungsausschuß des Bundestages empfahl und schon am 24.4. der Bundestag beschloß, die Sozialhilfe für AsylbewerberInnen und Bürgerkriegsflüchtl inge um 20 Prozent zu kürzen. Die Bundesrepublik, eines der reichsten Länder der Erde, läßt die Ärmsten der Armen, Flüchtlinge, die Hilfe bitter nötig haben und sich nicht wehren können, auf Kosten des Existenzminimums für die Deutschen sparen. Eine Schande, wenn Menschenrecht mehr als ein Wort sein soll. Eine Schande, die ohne großen Widerspruch über die Bühne ging. Erstmal geräuschlos durchgesetzt, wird die Übertragung dieses "Modells" auf deutsche SozialhilfebezieherInnen nicht auf sich warten lassen.

Flüchtlinge entfremdet

"Akzektabel" nannte Peter Struck, SPD- Geschäftsführer im Bundestag, die Einigung über die Sozialhilfekürzung (SZ 18.4.). Es drängt sich der Eindruck auf, daß dies so ist, weil es in diesem Fall um Fremde, um Flüchtlinge geht. Durch die jetzige Asylpolitik wird fast nur noch ein Bild hervorgerufen: Der Flüchtling ist zu Unrecht hier. Die Kampagnen gegen das Schleppertum, gegen angeblichen Asylmißbrauch und Mißbrauch der Sozialhilfe, gegen Rauschgiftdealerei und orgarnisierte Kriminalität, sie prägen die Bilder und Vorstellungen zum Thema "Asyl". Geschaffen wurde so eine Asylpolitik, die sich nur noch an der Verweildauer des Flüchtlings orientiert. Fragen nach den Gründen für die Flucht, humanitäre Aspekte und die geschichtliche Verantwortung Deutschlands zu diesem Thema werden immer weiter verdrängt. Dazu wird das Asylgesetz möglichst repressiv eingesetzt. Flüchtlinge leben außerhalb der städtischen Zentren, in Lagern wie Blankenburg und auf Schiffen wie in Bremen. Ihre soziale und kulturelle Freiheit wird immer weiter eingeschränkt. Ziel ist es, jegliche Solidarität und eine Begegnung mit der deutschen Gesellschaft zu verhindern. Dadurch entstehen gegenseitige Ängste, aufeinander zuzugehen. Wer war schon einmal in einem Flüchtlingsheim ? Diese Lager sind ja nicht gerade einladend. Wer hat überhaupt einmal mit einem Flüchtling gesprochen ?

Wer kennt schon Asreta?

Sind Flüchtlinge einmal zu einer bedrohlichen Masse entfremdet, wird alles möglich. Aus menschenverachtenden Reden und Beschlüssen wuchsen Taten. Eine verdrängte und bewältigt geglaubte deutsche Geschichte wurde wieder lebendig. Brandanschläge wie in Lübeck, Rostock, Solingen haben sich parallel zur "Asyldebatte" ereignet. Mordanschläge auf Fremde sind inzwischen deutscher Alltag geworden.

Umso notwendiger ist es, daß wir fragen: Wie ist es den Flüchtlingen ergangen? Warum kamen sie hierher? Jährlich fliehen weltweit Millionen von Menschen wegen Krieg, Massenvernichtung, Zerstörung ihrer Dörfer und Städte, Hunger und Umweltzerstörung sowie aus Gründen, die nicht so offen ausgesprochen werden: wegen Vergewaltigung, Flucht vor dem Militärdienst, Flucht vor der Perspektivlosi gkeit. Nur ein kleiner Teil dieser Flüchtlinge findet einen Weg nach Deutschland. Nur wenige BundesbürgerInnen finden Zugang zu hier angelangten Flüchtlingen. Nur wenige haben die Möglichkeit, ein persönliches Gespräch zu führen.

Wer kennt schon die Geschichte von Asreta S.? Drei Jahre war Asreta S. mit ihren Kindern auf der Flucht, um von Bosnien in die anscheinend sichere BRD zu gelangen. In dem Foto-Buch "Fluchtwege" ist sie kennenzulernen. Exemplarisch für viele erzählt sie: "Wir kommen aus Srebrenica. ... Im April 1992 sind wir nach Tuzla geflüchtet. ... Schließlich hatten wir nichts mehr zu essen und zu trinken, es blieb uns nur noch die Flucht. Am 15. Mai 1995 sind wir nach Deutschland gekommen, meine Kinder und ich. Zuerst war ich nicht in der Lage, irgend etwas zu tun, allein schon die Sirenen der Rettungswagen machten mir Angst. Meine Kinder gehen zur Schule und machen große Fortschritte, sie bekommen lauter Urkunden. Mir geht es nicht so gut, ich vergesse viel, kann mich sehr schlecht konzentrieren. Die Vergangenheit hört nicht auf, die Bilder der Erinnerung bestimmen den Alltag. ... Als ich erfuhr, daß Srebrenica zerstört ist, hatte ich große Angst um meinen Mann. Ich wußte nicht, wo er ist... Nach drei Jahren und sechs Monaten haben wir uns in Bremen wiedergesehen. Die Kinder haben ihren Papa nicht mehr erkannt.... Wir sind Bosnier und können nicht mehr in die serbisch besetzte Region zurück. ... Ab 1992 gerieten (unser) Haus und die Firma (in der ich arbeitete) genau ins Schußfeld zwischen die bosnische und die serbische Armee. ....Was die bosnischen Serben anrichteten, war grauenhaft. Es wurde erzählt, daß in Tuzla die Situation besser sein sollte, das Rote Kreuz organisierte Busse, um Frauen und Kinder aus der Stadt zu bringen. Die Busse wurden häufig kontrolliert, alle Männer wurden (von den Serben) herausgeholt. Mein Mann ist in Srebrenica zurückgeblieben. Am 11. Juli 1995 wurde die Stadt von der serbischen Armee eingenommen, dreizehn Verwandte, zwei Brüder und der Vater meines Mannes sind tot. In Tuzla wurden wir in einer Sporthalle untergebracht, die für 2000 Flüchtlinge gedacht war. ... Wir haben schließlich ein Haus gefunden, das leerstand. Es war feucht, zwei Familien lebten in jedem der drei Zimmer. Wir hatten kein Geschirr und kein Besteck. Pro Person bekamen wir 200g Zucker, 1 1/2 Kilo Mehl und etwas Öl im Monat vom Roten Kreuz. Die bosnischen Soldaten ließen die Essensreste für die Kinder übrig... Vollkornmehl kostete 20 DM das Kilo. Wir haben Pakete bekommen ... Zwei Jahre lebten wir in Angst vor den Raketen, doch wir stumpften ab, auf dem Schulweg schlugen Granaten ein, das Krankenhaus und das Schulgebäude waren ein beliebtes Ziel..." (S.41)

Grenzverletzungen

Einzel-Geschichten wie die von Asreta S. müssen in Deutschland bekannt werden, wenn das Verständnis für Flüchtlinge wieder wachsen soll. Am besten hineinfinden in ihr Leben können wir uns, wenn sie uns ganz nah und verletzlich gegenüberstehen. Deshalb werden uns in dem Foto-Buch "Fluchtwege" nicht nur die Schicksale von Flüchtlingen" lebendig, vorstellbar gemacht. Die Fotografien von Jürgen Siegmann zeigen uns die Menschen selber, Flüchtlinge und Deutsche.

Sie zeigen das Besondere, das Detail, die tatsächlichen Verhältnisse im Einzelfall. "Siegmanns Kamera sucht Grenzsituationen auf, die Orte und Ereignisse, wo unterschiedliche Systeme des Zusammenlebens aufeinanderstoßen, und sie zeigt in schmerzhaft deutlicher Weise die Unvereinbarkeiten, die Unfähigkeit im einzelnen Menschen, mit den Grenzüberschreitu ngen auf eine humane Weise umzugehen. ... Die "Rostocker Krawalle" haben Pressegeschichte gemacht. Die Bilder von Jürgen Siegmann bleiben als gestaltete Dokumente dem öffentlichen Bewußtsein eingebrannt. Sie gerinnen zu unheilvollen Symbolen. Eins davon zeigt zwei Männer, die, aus der Menge herausgegriffen, wie auf der Bühne in Gestik und Figur die Lage pantomimisch verdeutlichen, als hätte der Fotograf wie ein Filmregisseur die Szene modelliert.

(Foto) Die selbstbewußt unter überlegenem Lächeln gekreuzten Lederjackenarme des einen, die über deutsch-nationalem T-Shirt und feuchter Hose zum Gruß hochgereckte Hand des anderen Mannes. Siegmann erfaßt im entscheidenden Augenblick die Bildhaftigkeit der Szene und belichtet. Man weiß, daß die Beleuchtung nicht nur vom Blitz der Kamera herrührt, sondern auch von den Flammen eines Hauses, in dem Menschen verbrannt werden sollen nur darum, weil sie anders sind, weil sie Schutz gesucht und von der Behörde auch zugewiesen bekommen haben. Die Grenze zwischen verschiedenen Völkern wird zur Kriegszone mitten im Frieden."(Vorwort von Jörg Boström, S. 5).

Berührung mit Angst und Ekel

"Die Berührung fremder Welten artikuliert sich in Gesten von Angst und Ekel, von staatlicher, durch Uniformen geschützter Autorität und staaten- und heimloser, unheimlicher Schutzlosigkeit."(ebenda)

Foto "Man sollte sich diese Bilder vorstellen, aufgenommen an der Landesgrenze zwischen Bayern und Baden-Württemberg, um zu begreifen, daß wir noch immer in einer Welt eingesperrter Stämme leben. Man betastet das Fremde voller Ekel mit Gummihandschuhen und späht ihm mißtrauisch in den Arsch. Eine Völkerwanderung wie die, welche Europa bis hinein in das Mittelalter geschaffen hat, wäre längst wieder aufs neue in Bewegung. Sie wird kanalisiert wie unsere Flußsysteme mit neuen Risiken.

In einer weiteren Bildfolge zeigt Jürgen Siegmann die Gesichter der Heimatlosigkeit, der modernen Nomaden, deren Lebensgefühl nun nichts mehr hat von der Romantik der Ferne. Diese Bilder gestalten Enge und Not am Straßenrand, zwischen Trennwänden in Turnhallen, vor Notzelten und Wohnwagen. Eine trotzige Humanität treibt den Fotografen, der immer wieder die individuelle Schönheit der Erwachsenen und ihrer Kinder, die kostbare menschliche Substanz zum Thema macht."(ebenda) Foto Jean Nsotuna Mampouya, Zaire:

"Ich bin ein Asylbewerber auf Grund politischer Verfolgung. Mein Asylantrag wurde vom Bundesamt abgelehnt. Ich habe Klage vor dem Verwaltungsgericht eingereicht, sie wurde ebenfalls abgelehnt. Nun forderte die Ausländerbehörde mich auf, Deutschland zu verlassen, mein Status ist deshalb zur Zeit illegal. Ich habe aus diesem Grund nun um Kirchansayl gebeten. Meine Rechtsanwältin und ich haben einen Asylfolgeantrag gestellt.

Wenn ich in Deutschland als politischer Flüchtling eine Anerkennung bekomme, dann wäre es mir am wichtigsten, alles dafür einzusetzen, daß das diktatorische Regime in Zaire abgesetzt wird." (S. 37)

Fortsetzung in: Fluchtwege, Fotoband von Jürgen Siegmann und Leon Maresch, mit Interviews von Katharina Vogelmann, Leon Maresch, Sybille Franck und Frank Borris; Montage Verlag Dötlingen 1996, ISBN 3- 9802657-9-X, 107 Seiten, 34 DM

Jan, bitte folgendes kursiv: Das Buch "Fluchtwege" entstand durch die Zusammenarbeit von drei Mitgliedern des Internationalen Menschenrechtsvereins Bremen mit einem Galeristen und den zwei Photographen. Die Bilder und Interviews des Buches sind auch als Fotoausstellung erhältlich. Die Interviews mit Flüchtlingen in Bremen über ihre Situation und die dazugehörigen Fotos, bei denen sie gebeten wurden zu bestimmen, was sie von sich zeigen wollen, stießen bei den Veranstaltungen zu dieser Ausstellung auf besonders großes Interesse. Die gesamte Photoausstellung ist zu bekommen über Leon Maresch oder die Galerie Cornelius Hertz. Kontaktadresse in Oldenburg ist Katharina Vogelmann, Tel. 204471.

achim


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