Oldenburger STACHEL Ausgabe 3/97      Seite 6
 
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"Reisen ins Leben"

"Weiterleben nach einer Kindheit in Auschwitz"

(BRD, 1996, 130min)

"Reisen ins Leben" beleuchtet den Teil der Geschichte, dem bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde: der Zeit nach dem Ende des zweiten Weltkrieges.

In dem Film kommen die Lieteraturwissenschaft lerin Ruth Klüger, der im letzten Jahr verstorbene Sozialwissenschaftler Gerhard Durlacher und der Hochschulleherer für Kunst, Yehuda Bacon, zu Wort. Sie haben alle einen Teil ihrer Kindheit im Konzentrationslager Theresienstadt und im Vernichtungslager Auschwitz verbracht. Vor dem Hintergrund des von ihnen erlebten Grauens versuchen sie, ihr Leben nach der Befreiung zu beschreiben. Entgegen der gängigen Auffassung, daß das Leid der Überlebenden nach der Befreiung beendet war, zeihnet der Film ein anderes Bild. Nach dem Vernichtungsprogramm des Nationalsozialismus fand der allergrößte Teil der KZ-Überlebenden keine Zuflucht mehr: "Plötzlich wurde klar, daß man kein Zuhause mehr hatte, in das man zurückkehren konnte", sagt Yehuda Bacon im Film. Die Konsequenz für viele Überlebende war, daß sie erneut in Lager gepfercht wurden - in "Wartesäle auf das Leben", die sogenannten Displaced Person Camps.

Die Geschichte der Überlebenden ist auch danach gezeichnet vonw den Mühen, mit den schrecklichen Erinnerungen weiterzuleben, sie zu verarbeiten oder sie zu verdrängen, eine neue Heimat zu finden, ein neues Leben zu beginnen, konfrontiert mit dem permanenten Desinteresse von Mitmenschen, Journalisten und Politikern.

Immer wieder taucht bei den Überlebenden die Frage auf, wie sie nach dem Vernichtungsprogr ammen der Nationalsozialisten noch weiterleben können. Symptomatisch hierfür ist die vonw Ruth Klüger gewählte Analogie des "Reiters über den Bodensee": "Reiter über den Bodensee waren wir gewesen, die erst im Rückblick erkennen, was das für ein Wasser war, das sie fast geschluckt hat". Viele vonw ihnen beingen nach der "Befreiung", auch noch viele Jahre später, Selbstmord.

Thomas Mitscherlichs Film "Reisen ins Leben" leistet einen wichtigen Beitrag dazu, daß die verfolgten europäischen Juden nicht als anonyme Masse, sondern als Individuen wahrgenommen werden.

Der Film wird am 21.3. im Kulturzentrum PFL, um 19 Uhr, gezeigt. Eintritt 5/7 DM. Nach dem Film wird der Regisseur Thomas Mitscherlich oder die Regieassistentin und Autorin des gleichnahmigen Buches, Barbara Johr, zuum Film anwesend sein und für Fragen und Diskussionsn zur Verfügung stehen. Den VeranstalterInnen geht es bei der Diskussino u.a. auch um Fragen der Darstellung und Vermittlung von NSGeschichte und Holocaust.

Ruth Klüger ist 1931 in Wien geboren und wurde mit ihrer Mutter als Elfjährige nach Theresienstadt und mit zwölf Jahren nach Auschwitz deportiert. Im Januar 1945 wagte sie zusammen mit ihrer Mutter und einer angenommenen Waise auf einem der Todesmärsche die Flucht. Sie gelangten nach Straubing in Bayern, wo sie unter der ständigen Gefahr, entdeckt zu werden, das Kriegsende erlebten. Mit 16 Jahren emigrierte sie zusammen mit ihrer Mutter nach New York. In Berkeley studierte sie Literaturwissenschaften und Germanistik. Heute lehrt sie an der University of California.

In ihrem Buch "weiter leben - Eine Jugend" beschreibt sie die Anfänge der Judenverfolgung in Österreich, das leben in den Lagern und ihre Zeit nach der Befreiung in Deutschland, sowie ihre Erfahrungen als Überlebende in den USA und Deutschland.

In der Auseinandersetzung mit dem Holocaust bezieht Ruth Klüger eine klare Position gegen den Status des Opfers der Geschichte und tritt entschieden gegen Formen der Verkitschung und Mystifizierung ein.


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