Ausgabe 9/96 | Seite 12 | |||||
Kirchenaustritt allein genügt nichtObwohl etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung keiner der beiden Großkirchen und 27% überhaupt keiner Religion, Kirche oder Sekte angehören, tritt diese zahlenmäßig ansehnliche Bevölkerungsgruppe im politischen Leben kaum in Erscheinung. Folge: Die Rechte und Interessen von Konfessionslosen werden ständig übergangen, obwohl der Staat eigentlich zu weltanschaulicher Neutralität verpflichtet ist. Die unbestreitbare Tatsache, daß die Glaubensfestigkeit der Kirchenmitglieder ständig schwindet, ändert hieran nichts. Es kann im Gegenteil beobachtet werden, daß gerade der Glaubensschwund bei ihren Mitgliedern die Kirchen veranlaßt, ihre Machtposition im weltlichen Bereich immer mehr auszubauen. Deshalb soll nachfolgend dargestellt werden, in welchem Maße das persönliche Leben aller kirchenfernen Menschen durch die Machtfülle der christlichen Großkirchen beeinträchtigt wird, ohne daß die ständig größer werdende Bevölkerungsgruppe der Konfessionslosen - in Ermangelung einer politischen Interessenvertretung - bisher etwas dagegen unternommen hat.
Klerikal bevormundet - von der Wiege bis zur Bahre?
1. GeburtUm ihre mitunter höchst skurrilen Moralvorstellungen durchzusetzen, bedienen sich die christlichen Kirchen gerne der Staatsgewalt, wodurch auch Nichtchristlnnen kirchlich begründeten Verhaltensnormen ausgeliefert sind. Ein besonderes Steckenpferd christlicher MoralistInnen ist der immer wieder unternommene Versuch der Verhinderung von Sexualkundeunterricht an den Schulen (Stichwort: Freundeskreis "Maria Goretti") und das Unterlaufen der gesetzlichen Regelungen bei Schwangerschaftsabbrüchen (entwürdigende Behandlung hilfesuchender Frauen; Diffamierungskampagnen gegen überkonfessionelle Beratungseinrichtungen wie "pro familia"; Versuche, unsoziale Regelungen der Kostenübernahme bei Schwangerschaftsabbrüchen durchzusetzen usw.) Die internationalen Folgen der klerikalen "Fötenfreundlichkeit" (die nicht zu verwechseln ist mit der weitaus seltener anzutreffenden Kinderfreundlichkeit) sind bekannt: Die Geburtenlawine nimmt nach exponentiellen Wachstumsgesetzen zu. Das beschleunigt den Raubbau an natürlichen Ressourcen, der für die nachkommenden Generationen zur existentiellen Bedrohung anwachsen wird. Dabei nehmen die Kirchen die daraus resultierende Massenverelendung in Kauf. Bei einer verelendeten, ungebildeten Bevölkerung lassen sich religiöse und kirchliche Hierarchien ohnehin einfacher verankern als in modernen Industriegesellschaften...
2. KindheitDurch Taufe unmündiger Kinder sichern sich die Kirchen einen großen Bestand an Mitgliedern, die in öffentlichen Urkunden und Statistiken als Taufschein- Christlnnen geführt werden und damit später zur Zahlung der vom Staat beigetriebenen Kirchensteuer verpflichtet sind. Darüber hinaus begründen die großen christlichen Religionsgesellschaften mit dem Taufschein- Christentum ihren Status als "stärkste gesellschaftlich relevante Gruppe", ihre Ansprüche auf öffentliche Subventionen und Einflußmöglichkeiten. Der Zwangsmitgliedschaft, die - je nach Bundesland - nur durch den späteren Gang zu einem Amts- bzw. Kreisgericht oder Standesamt wieder rückgängig gemacht werden kann, folgt die religiöse Indoktrination, die die christlichen Kirchen seit jeher praktizieren. In vielen Gegenden Deutschlands ist es ihnen gelungen, Kindergärten, Kinderheime und Kindertagesstätten trotz überwiegender Finanzierung durch die öffentliche Hand so weitgehend in ihrer Trägerschaft zu monopolisieren, daß weltanschaulich neutrale Einrichtungen von Städten und Gemeinden bzw. anderen freien Trägern praktisch nicht existieren oder ins Abseits gedrängt werden. Für kirchenfreie Bürger bedeutet dies: Sie sind vor die Wahl gestellt, ihr Kind der christlichen Indoktrination auszuliefern oder gezwungenermaßen für die Betreuung ihrer Kinder nach einer anderen Lösung zu suchen, was oftmals schwer oder gar nicht möglich ist.
3. SchuleDen christlichen Großkirchen ist es gelungen, den Staat zu verpflichten, die Glaubensunterweisung ihrer Mitglieder aus den Taschen der Steuerzahler und damit auch der Konfessionslosen und Andersgläubigen zu finanzieren. Der Staat stellt zu diesem Zweck seine Schulen zur Verfügung, übernimmt die Ausbildung und Besoldung der Religionslehrerlnnen und legt darüber hinaus in vielen Landesverfassungen und Schulgesetzen fest, daß auch der übrige Unterricht in christlichem Geiste zu erteilen sei.
4. Berufsausbildung und -ausübungEin Gebiet, auf dem sich die Kirchen besonders engagieren, ist der Sozialbereich; dabei tragen sie jedoch nur einen bescheidenen Anteil der Kosten sozialer Einrichtungen selbst (siehe dazu Punkt 5). Für Menschen, die die Ausbildung in einem sozialen Beruf anstreben, kann dieser Umstand gravierende Konsequenzen haben, denn bei vielen Berufen des Sozialbereichs besitzen die Kirchen nahezu ein Ausbildungs- und Anstellungsmonopol. Für diese Berufe (z.B. Erzieherln, Sozialarbeiterln, SozialpädagogIn) bestehen Ausbildungsplätze in vielen Bundesländern überwiegend nur an kirchlichen Fach(hoch)schulen, die zum überwiegenden Teil selbstverständlich aus öffentlichen Mitteln unterhalten werden. Es gibt kommunale Krankenhäuser, in denen die leitenden Stellen des Pflegepersonals ausschließlich von Caritas-MitarbeiterInnen besetzt werden dürfen, wobei der kirchliche Wohlfahrtsverband auch bei der Einstellung der übrigen Pflegekräfte mitwirkt. Die Konfessionszugehörigkeit wird so zu dem entscheidenden Kriterium für die Einstellung in ein Arbeitsverhältnis, für die eigentlich nur fachliche Qualifikation eine Rolle spielen sollte. Im Jahr 1985 haben die christlichen Großkirchen vor dem Bundesverfassungsgericht ein Urteil erstritten, demzufolge sie jederzeit Mitarbeiterlnnen ihrer Einrichtungen bei Verstoß gegen die - kirchlich eng verstandene - Loyalitätspflicht kündigen dürfen. Spätestens nach diesem Gerichtsurteil muß öffentlich die Frage aufgeworfen werden, wie lange ein demokratisches Gemeinwesen noch Einrichtungen eines Arbeitgebers aus öffentlichen Haushalten unterhalten darf, in denen die Wahrnehmung von Grundrechten (z. B. Eheschließung oder Bekenntnisfreiheit) mit dem Arbeitsplatzverlust geahndet wird. Die Frage ist um so dringender zu stellen, als die christlichen Kirchen in Deutschland mit etwa 900.000 Beschäftigten der zweitgrößte Arbeitgeber nach dem Öffentlichen Dienst sind.
5. Steuern und ZuschüsseAbgesehen vom Kirchensteuereinzug durch den Staat (1992: 17 Milliarden!) werden den Kirchen zusätzliche Einnahmen und Zuschüsse aus den Staatshaushalten zugewendet. Begründet wird dies mit der angeblichen Verpflichtung zur Entschädigung der Kirchen für Vermögensverluste durch die sogenannten "Säkularisationen". Merkwürdig: Für keine andere Gruppe erkennt der Staat nach derartigen Zeiträumen noch Entschädigungsansprüche an. Angesichts der seit fast zwei Jahrhunderten erfolgten Zahlungen aus öffentlichen Mitteln müßten alle evtl. bestehenden Ansprüche ohnehin längst abgegolten sein. Außerdem blieb bislang unberücksichtigt, daß sich die Kirchen vor der "Säkularisation" ein Milliardenvermögen auf rechtlich fragwürdige Weise (z. B. Konfiszierung des Vermögens von "Hexen" und Inquisitionsopfern) angeeignet hatten. Allein schon deshalb müßten die von der "Säkularisation" abgeleiteten Staatszuschüsse ersatzlos gestrichen werden. (Übrigens: Die christlichen Kirchen haben ihre Opfer selbstverständlich niemals entschädigt.) Über die Säkularisationsentschädigungen hinaus werden den Kirchen aus öffentlichen Haushalten Zuschüsse (z.B. Baukostenzuschüsse von Bund, Ländern und Gemeinden) in Milliardenhöhe sowie über Pauschalleistungen der Länder bis hin zur Mitfinanzierung kirchlicher Veranstaltungen (wie Kirchentage, ökumenische Feiern u. ä.) weitere Millionenbeträge gewährt. Diese Zuschüsse werden häufig von Haushaltsjahr zu Haushaltsjahr dynamisch fortgeschrieben, mitunter sogar an parlamentarischen Kontrollinstanzen vorbei. Bei der Finanzierung öffentlicher Sozialeinrichtungen in kirchlicher Hand wird lediglich ein geringer Teil der Kosten von den beiden großen Kirchen selbst aufgebracht. Den überwiegenden Kostenanteil (zwischen 85 und 100 Prozent) tragen die Nutzerlnnen und die öffentlichen Hände, also auch die konfessionslosen SteuerzahlerInnen. Insgesamt läßt sich feststellen, daß kirchliche Sozialeinrichtungen den Staat teurer zu stehen kommen, als wenn er sie selbst unterhalten und dafür die immense Subventionierung der Kirchen einstellen würde.
6. JustizEs gibt Gerichtsurteile aus neuerer Zeit, bei denen ganz offensichtlich nach altem Kirchenrecht verfahren wurde. Zu erwähnen sind hier insbesondere Urteile im Zusammenhang mit dem "Gotteslästerungs-Paragraphen" §166 StGB, sowie zahlreiche Schulgebetsurteile, Kirchensteuerentscheidungen und Arbeitsgerichtsurteile nach dem sogenannten Tendenzschutzparagraphen. Auch Kruzifixe in Gerichtssälen und das Wirken von Anstaltsgeistlichen in Justizvollzugsanstalten bezeugen, daß das Verfassungsgebot der Trennung von Staat und Kirche im Bereich der Rechtsprechung noch längst nicht vollzogen ist.
7. MedienIn den öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten genießen die christlichen Großkirchen ungeheure Privilegien. Nicht nur, daß sie über ihre Präsenz in den Rundfunkräten auf die Programmgestaltung einwirken, es werden ihnen zudem noch Sendezeiten zugeteilt, die sie eigenverantwortlich gestalten können. Neben dem beträchtlichen Anteil von kircheneigenen bzw. kirchlich/religiös beeinflußten Sendungen wird von klerikaler Seite unablässig darauf hingewirkt, kirchenkritische Themen aus dem Programm auszublenden, in ungünstige Sendezeiten abzudrängen oder verantwortliche Journalisten einzuschüchtern.
8. Krankheit und AlterIn vielen Gebieten der Bundesrepublik findet ein konfessionsloser Mensch, der wegen einer schweren Krankheit oder wegen seines hohen Alters hilfsbedürftig ist, fast ausschließlich kirchliche Einrichtungen vor, die als Hilfsinstitutionen in Frage kommen. Unter Berufung auf das von den Kirchen geforderte und vom Staat akzeptierte "Subsidiaritätsprinzip" verzichtet letzterer auf die Errichtung von Sozialeinrichtungen in kommunaler Trägerschaft, wenn sich die Kirchen auf diesem Gebiet betätigen wollen. Obwohl der Hilfsanspruch eines jeden Menschen an den Staat, den er mit seinen Steuerbeiträgen unterhält, unbedingt als Grundrecht zu respektieren ist, verweist der Staat die Hilfsbedürftigen an kirchlich gebundene Institutionen - häufig gegen den erklärten Willen der Betroffenen, die sich mangels Alternativen nicht wehren können. Es ist schwer abzuschätzen, wie viele Menschen allein dieser Umstand davon abhält, der Kirche den Rücken zu kehren. Die Übertragung der sozialen Hilfsdienste an die Kirchen ist somit einer der raffiniertesten, wirkungsvollsten Schachzüge zur Festigung der Großmacht Kirche.
9. SterbenDie meisten Menschen haben weniger Angst vor dem Tod als vielmehr Angst vor dem Sterben, und letzteres aus gutem Grund. Die heutige Medizin ist in der Lage, Patientlnnen auch bei hoffnungsloser Krankheit lange am Leben zu halten, selbst dann, wenn dieser Zustand nur noch zu weiteren Qualen führt. Dieselbe Medizin wäre auch in der Lage, zu einem humanen und menschenwürdigen Sterben beizutragen. Aber dieses wird ebenso wie das Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seinen eigenen Freitod durch christliche Vorstellungen, nach denen auch ein schweres, sinnloses Leiden gottgewollt sei, verhindert bzw. verurteilt. Ohne die Problematik einer Mißbrauchssicherung und die großen rechtlichen Probleme zu verkennen, bleibt festzustellen, daß die Diskussionen um ein menschenwürdiges Sterben solange erfolglos geführt werden, solange es den christlichen Kirchen weiterhin ermöglicht wird, mit Unterstützung des Staates ihre Wertvorstellungen allen Bürgerlnnen aufzuzwingen.
Schlußfolgerungen/KonsequenzenJeder konfessionslose Mensch - gleichgültig, ob er/sie sich als Atheistln, Agnostikerln, Freidenkerln, Freigeist oder HumanistIn bezeichnet - sollte erkennen, daß sein/ihr Leben in Deutschland durch die Kirchen massiv beeinträchtigt wird. Der Staat verletzt permanent seine Pflicht zur Gleichbehandlung der Bürgerlnnen durch die ungeheuere Privilegierung der Großkirchen (die sich de facto als Staatskirchen/Staatsreligionen aufführen), durch Übertragung sozialer und karitativer Aufgaben an diese Kirchen und dadurch, daß über staatliche Gesetze religiöse Wertvorstellungen gegenüber allen Staatsbürgerlnnen durchgesetzt werden sollen. Folge: Der/die Konfessionslose ist in Deutschland (aber nicht nur dort!) ein Mensch zweiter Klasse, ob als Vorschulkind oder als SchülerIn, ob in Beruf oder Ausbildung, ob als hilfsbedürftiger Mensch oder schließlich als SterbendeR.Hieran wird sich nichts ändern, solange es Konfessionslose nicht für notwendig halten, GEMEINSAM für ihre Rechte zu kämpfen. Der Zusammenschluß der Konfessionslosen, AgnostikerInnen und Atheistlnnen in einem starken Verband ist daher unerläßlich und nach dem Kirchenaustritt die einzig richtige Konsequenz angesichts der hier aufgezeigten Fakten und Argumente.Also - und nun wird´s praktisch: Wer den Kirchenaustritt bereits hinter sich hat, der sollte sich besser heute als morgen dem Internationalen Bund der Konfessionslosen und AtheistInnen (IBKA) anschließen. (Dafür muß man übrigens keinE AtheistIn sein.) Diejenigen, die (aus Lethargie?) immer noch Mitglied der Kirche sind, seien freundlich, aber nachdrücklich ermahnt, sich endlich eines Besseren zu besinnen und schnellstmöglich Nägel mit Köpfen zu machen. Argumente hierfür gibt es genug. Falls der Kirchenaustritt aus Berufsgründen (s.o.) nicht möglich sein sollte, man also der Leidensgruppe der "Zwangskonfessionalisierten" angehört, so sollte man sich nicht scheuen, den IBKA als "AnAtAg" (AnonymeR AtheistIn/AgnostikerIn) ideell und/oder finanziell zu unterstützen, damit dieser effektiver wirken kann im Sinne eines kritischen säkularen und sozialen Humanismus, für das verfassungsmäßig garantierte Recht auf freie Wahl und Äußerung der eigenen Weltanschauung, sowie die dafür unerläßliche, konsequente Trennung von Staat und Kirche.
M. S. Salomon (unter Verwendung des politischen Leitfadens des IBKA e.V.)
(Für Interessierte: Der IBKA, dem u.a. die Kirchenkritiker Karlheinz DESCHNER und Horst HERRMANN angehören, ist als gemeinnützig anerkannt und hat seinen Sitz in 10115 Berlin, Chauseestraße 8.)
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