Oldenburger STACHEL Nr. 246 / Ausgabe 11/04      Seite 7
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Der Löwe und Hartz X

Der folgende Redebeitrag fand großen Beifall auf der Montagsdemo (offenes Mikrophon) gegen die Agenda 2010 am 13.9.04 - deshalb soll er der STACHEL-LeserInnenschaft nicht vorenthalten werden:

Ich möchte kurz auf einen Zusammenhang eingehen, der in der Debatte um Hartz IV bzw. die Agenda 2010 meist unbeachtet bleibt oder zu kurz kommt. Es geht um die Lebensbedingungen der MigrantInnen in der Bundesrepublik und was das mit der Agenda 2010 zu tun hat. Wie die meisten wissen werden, beherbergt das ehemalige Kloster Blankenburg am Stadtrand Oldenburgs eine sogenannte "Zentrale Aufnahmestelle" (ZAST) für Flüchtlinge.

Dazu zuerst eine kleine afrikanische Geschichte, die ein Flüchtling erzählt hat:

Ein Löwe geht zu drei Kühen und sagt zu ihnen: Liefert mir eine von euch aus, so laß ich die anderen von euch in Frieden. Zwei der Kühe sind sich schnell einig und gehen auf den Handel ein.

Ein Woche später kommt der Löwe zu einer der beiden Kühe und sagt: Überlasse mir deine Kollegin, dann verschone ich dich! Die Kuh ist einverstanden.

Es vergeht eine Woche, dann kommt der Löwe wieder. Die Kuh erinnert ihn an sein Versprechen, doch der Löwe lacht und fragt: Warum sollte ich dich verschonen? Und frißt sie auf.

Ein Modellversuch:

Seit mehr als sechs Jahren werden spezielle Abschiebelager in Deutschland erprobt. Dort werden Flüchtlinge eingewiesen, die nicht abgeschoben werden können, weil sie keine Papiere haben. Ihnen wird "mangelnde Mitwirkung" unterstellt. Mittlerweile heißen diese Lager "Ausreisezentren" und stehen im Zuwanderungsgesetz.

In diesen Lagern wird gebündelt angewandt, was es an Sondergesetzen für Flüchtlinge gibt. Flüchtlinge in den "Ausreisezentren" bekommen keine Sozialhilfe mehr, nur Essen, ein Bett und nur in Ausnahmefällen ein Taschengeld. Gesundheitsversorgung gibt es nur als Notfallbehandlung und besteht häufig in der Verabreichung von Paracetamol, einem starken Schmerzmittel. Ohne Genehmigung dürfen sie das Stadtgebiet nicht verlassen. Immer wieder werden sie zu "Verhören" geholt. Ihnen wird die Hoffnung genommen das Lager je wieder verlassen zu können. Viele berichten, sie würden langsam verrückt.

Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge verschwindet schließlich, weil sie die Zermürbungstaktik nicht mehr aushalten. Damit verlieren sie jeden Aufenthaltsstatus und alle Rechte, sie werden zu "Illegalen". Wie und wo sie nach dem Untertauchen leben, interessiert niemanden mehr. Die verantwortlichen Politiker erklären dies zum Erfolg!

Ein anderer Modellversuch:

Junge MannheimerInnen, die Sozialhilfe beziehen, müssen in einem Job-Center vorsprechen, da sie sonst ihren Anspruch auf Sozialhilfe verlieren. Offizielles Ziel des Job-Centers ist die Vermittlung in Ausbildung oder Arbeit. Da es aber weder Ausbildungs- noch Arbeitsplätze gibt, werden den Jugendlichen statt dessen Beschäftigungsmaßnahmen und Praktika aufgezwungen. Spezialmaßnahmen in diesem Modellversuch sind nicht nur abgesenkte Sozialleistungen und eine eingeschränkte Gesundheitsversorgung, sondern auch regelmäßige "Hausbesuche". Von 1100 jungen Erwachsenen wurden auf diese Weise bislang die Hälfte aus der Sozialhilfe herausgedrängt: sie haben ihren Sozialhilfeanspruch wegen "mangelnder Mitwirkung" verwirkt und sind quasi verschwunden. Wovon sie jetzt leben, interessiert offiziell niemanden mehr. SozialarbeiterInnen wissen, daß sie sich mit Blut- und Plasmaspenden, Prostitution oder Diebstählen durchschlagen. Der Modellversuch wird von den Behörden als Erfolg eingestuft.

Zwei vordergründig sehr unterschiedliche Modelle, jedoch ähnliche Ergebnisse. Bei beiden "verschwindet" die Hälfte der betroffenen Menschen, d.h. sie existieren für die jeweilige Behörde nicht mehr. Offiziell werden beiden Modellversuche als Erfolg deklariert.

Ich kann nur feststellen, daß der Umgang mit Migrantinnen Vorbildcharakter für derartige Modellprojekte wie eben aus Mannheim beschreiben hat - aber auch für die gesamte Ausgestaltung der sogenannten Sozialreformen. So wurde z.B. die Einschränkung der Gesundheitsversorgung zuerst an Flüchtlingen ausprobiert, ebenso die abgesenkte Sozialhilfe.

Gutscheine statt Bargeld wie im Arbeitslosengeld II vorgesehen, bekommen Flüchtlinge z.B. hier in Oldenburg bereits seit 10 Jahren.

Das heißt nicht, daß die heute Ausgegrenzten sich morgen in der gleichen Situation wiederfinden wie Flüchtlinge. Für Flüchtlinge in der Illegalität ist die Entrechtung total, sie können weder einen Arzt aufsuchen, noch ihre Kinder zur Schule schicken - sie leben in der ständigen Angst entdeckt und dann sofort abgeschoben zu werden.

Flüchtlinge sind darüber hinaus auch noch von Rassismus betroffen. Sie bleiben die gesellschaftliche Gruppe, die stärker an den Rand gedrängt wird als andere.

Sie sind die erste Kuh, die gefressen wird, an denen unsoziale Maßnahmen als erstes ausprobiert und gesellschaftlich durchgesetzt werden.

Ich denke, daß es wichtig ist, diesen Zusammenhang zu erkennen, sich zu solidarisieren und Protest gemeinsam zu organisieren - damit die Kritik an den aktuellen sozialen Angriffen nicht wohlstandschauvinistisch wird - und der Löwe am Ende alle frißt.

Zum Abschluß noch ein Zitat von einem chilenischen Genossen in einem Film über den 11.9.1972, den Tag der Zerschlagung der chilenischen Revolution. Er zitierte den Heiligen Augustinus mit den Worten:

"Die Hoffnung hat zwei Töchter - WUT und MUT"

Christian

 

 
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