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Ja, warum nur wählen?
Immer, wenn ich zur Landesbibliothek am Pferdemarkt fahre - und das ist zur
Zeit täglich - komme ich an dem Büro der SPD in der Huntestraße vorbei. Dann
werfe ich einen etwas traurigen Blick auf ein schmutziges, graues Gebäude,
dem nur das Geschmiere eines vermutlich enttäuschten Sympathisanten etwas
Farbe verleiht. Lieblos gestaltete Schilder verraten dem Passanten, daß es
sich hier um den Sitz des Bezirks und des Unterbezirks der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands handelt. Die Rolläden vor den
Fenstern im ersten Stock sind heruntergelassen und die Tür ist verschlossen.
Der Betrachter erfährt mit keinem Wort, wann und wie die Funktionäre etwa zu
erreichen sind, denn das ganze Arrangement signalisiert nur ein Anliegen:
Laßt uns bloß in Ruhe!
Das also ist, um es im modernen Deutsch zu sagen, das "outfit" einer
politischen Gruppierung, die sich als "Volkspartei" versteht. Man sollte
meinen, daß eine solche einen Laden in der Innenstadt mietet (wie es die
Grünen beispielsweise getan haben) (meist ist da aber zu - dort fehlt mir auch
noch was, als daß ich sie wählen könnte, d. LektorIn), in den jeder hineinspazieren kann, um
seine Klagen oder Anliegen vorzubringen - aber ein solcher existiert nicht.
Übrigens gilt das auch für die CDU und die FDP - alle drei Parteien
verkriechen sich in irgendwelchen Büros, die schwer zu finden und kaum
zugänglich sind - offenbar haben die Volksparteien Angst vor dem Volk.
Und was heißt überhaupt
"Volkspartei"?
Nur zwei Prozent der Stimmbürger, so habe ich irgendwo gelesen, gehören
überhaupt einer solchen Organisation an - also eine winzige Minderheit. Und
die anderen? Ich besuchte vor einigen Tagen eine Versammlung in der
Evangelischen Studentengemeinde, in der es um die "Sicherheits"gesetze des
Innenministers Schily ging. Die jungen Leute diskutierten das politische
Thema engagiert und kritisch - aber gehörte irgendeiner von ihnen einer
Partei an? Offensichtlich nicht, denn allen war gemeinsam, daß diese Form des
Engagements in ihrem Denken keine Rolle spielte. Demonstrationen? Aber ja!
Aktionen? Sofort - aber Mitarbeit in der SPD oder gar CDU oder FDP? Dieser
Gedanke brachte nur schweigende Ablehnung hervor.
Ist das so verwunderlich?
Ich kenne ja nun das Innenleben der CDU und der SPD aus eigener Erfahrung
und weiß, daß die innerparteiliche Demokratie in beiden Organisationen ein
Witz ist, wobei sich, jedenfalls zu meiner Zeit, die SPD insofern positiv
von der CDU unterschied, als es in ihr noch drei- oder viermal im Jahr eine
Mitgliederversammlung gab, in der der Genosse Arsch im Zweifel Gelegenheit
hatte, unter Punkt "Verschiedenes" sein Anliegen vorzubringen. Ah, und dann
gab es noch etwas: Da der Ortsverein Eversten etwa so viele Delegierte zum
Unterbezirksparteitag stellte als Mitglieder an der Versammlung teilnahmen,
brachte ich es sogar zum Rang eines Ersatzsdelegierten, durfte also an dem
erlauchten Kongreß teilnehmen. Damit sind aber schon die Möglichkeiten eines
gewöhnlichen Parteimitglieds erschöpft, was bedeutet, daß der normale
Genosse an der innerparteilichen Willensbildung überhaupt nicht mehr
teilnimmt - warum auch? Er wird sowieso nicht gehört.
ParteiuntertanInnen
Warum treten denn überhaupt noch Untertanen dieser Republik einer Partei
bei? Oh, es gibt Gründe: Wer beispielsweise Redakteur im
öffentlich-rechtlichen Rundfunk werden will oder aber im Schuldienst
aufsteigen möchte, eine Hausmeisterstelle anstrebt, überhaupt irgendeinen
Vorteil sucht, tritt besser der zuständigen Partei bei und verstaut zugleich
sein Mitgliedsbuch irgendwo ganz tief unten in seiner Seekiste, denn eines
ist klar: der Karrierist kassiert und schweigt, am besten bleibt er aus den
Versammlungen also ganz weg, kümmert sich also um den Laden nicht mehr. Wer
dagegen ein Anliegen hat und das vertritt, stört nur, denn Entscheidungen
fallen in den Parteien im kleinen Zirkel der internen Eliten. In diese
Kreise wird man aber nur aufgenommen, wenn man aus irgendwelchen Gründen
wichtig ist, beispielsweise eine Gewerkschaft oder einen Verband vertritt,
wenn man sich durch eine Spende in die Gruppe einkaufen kann,
oder wenn man auf Grund persönlicher Beziehungen kooptiert wird.
Kungelparties
Die Parteien bilden also Gruppierungen, die aus einem mafiosen Geflecht von
Untergruppen bestehen, die nach außen hin nicht erkennbar sind, aber die
Macht im Staate in ihren Händen monopolisiert haben. Diese Cliquen kungeln
untereinander die Kandidatenlisten zu den jeweiligen Wahlen aus, denen dann
das Wahlvolk zustimmen kann oder auch nicht, was letztlich egal ist, denn ob
100 oder 10 Prozent der Stimmbürger an den Wahlen teilnehmen - die Plätze in
den Parlamenten werden immer besetzt.
Wie funktioniert das trotzdem?
Was aber hält die Parteien letztendlich zusammen?
Das, was jeden Betrieb in Gang hält: das Gewinnstreben.
Dabei gilt: Wer ein Haus bauen will, braucht dazu eine Qualifikation, aber
wer Deutschland regieren möchte, muß sich nur wählen lassen. Und wer einmal
die entsprechenden Ämter innehat, verdient hervorragend - und das ganz
legal. Als Beispiel nenne ich Franz (Josef) Strauß: Er kehrte mit einem
verschlissenen Wehrmachtsmantel aus dem Krieg zurück und starb als
hundertfacher Millionär - und dabei war er sicherlich ebenso wenig korrupt
wie Otto v. Bismarck, der seine politische Laufbahn als verschuldeter
Gutsbesitzer begann und dann zu einem schwerreichen Fürsten aufstieg.
Und das Gemeinwohl?
Gewiß, wenn das dem Verdienst nicht im Wege steht, ja, wenn sich das
Einkommen steigern läßt, indem man das allgemeine Interesse fördert, dann
wird ein Politiker den Nutzen des deutschen Volkes mehren und Schaden von
ihm wenden - aber wie wird er sich entscheiden, wenn das Allgemeininteresse
in Konflikt gerät mit dem Partikularinteresse seiner Clique, von der er
abhängt? Dreimal darf man raten.
In den Talkshows wird gebetsmühlenartig wiederholt, daß wir die Parteien
benötigen, weil nur durch sie die Demokratie funktioniere.
Wirklich?
Schauen wir uns doch einmal an, wie diese Parteiendemokratie aussieht.
Ihr Wesen besteht darin, daß die Entscheidungen im Parlament fallen. Dort
aber sitzen die Delegierten der Parteien, die sich hier als Fraktionen
organisiert haben. Theoretisch sind die Abgeordneten in ihren Entscheidungen
nur ihrem Gewissen unterworfen und an Weisungen nicht gebunden - so ähnlich
heißt es in der Verfassung. Tatsächlich aber unterliegen die Mitglieder des
Hohen Hauses dem Fraktionszwang. Was das bedeutet, mag folgendes
Rechenbeispiel sagen: Nehmen wir an, daß das Parlament 600 Abgeordnete
zähle. Davon bilden 301 Personen die absolute Mehrheit. Wenn wir es nur mit
einer Regierungsfraktion zu tun haben, dann bedeutet der Fraktionszwang, daß
eine Vorlage dann beschlossen wird, wenn bereits 152 Abgeordnete, also ein
Viertel des Hauses, dafür stimmen. Denn die Minderheit der
Regierungsfraktion ist in diesem Falle - Gewissen hin, Gewissen her -
angewiesen, das zu billigen, was sie zuvor abgelehnt hat. Nun aber gehören
in unserem System die Mitglieder der Regierung der Fraktion an. Ein Block
von etwa 40 Ministern, Staatsministern und parlamentarischen
Staatssekretären entscheidet also in eigener Sache. Um die Mehrheit in der
Fraktion zu erlangen, braucht mithin jedes Regierungsmitglied nur drei
andere Abgeordnete, die, aus welchen Gründen auch immer, mit ihm stimmen.
Demokratie?
Doch treiben wir das "Spiel" etwas weiter, indem wir unterstellen, daß zwei
Parteien die Regierung tragen, die eine habe 101 Abegordnete und die andere
50. Wenn von dieser zweiten, der kleineren Partei, 26 Abgeordnete eine
Vorlage ablehnen, dürfen ihr die anderen 275 Politiker der beiden
Mehrheitsfraktionen nicht zustimmen, auch wenn sie der Meinung sein sollten,
daß das eine gute Sache wäre. Und noch absurder wird das parlamentarische
Spiel, wenn wir uns auf die Ebene der Ausschüsse begeben, die ja ein
Spiegelbild des Plenums sind. Unterstellt, eine solche Gruppe habe 30
Mitglieder, von denen 16 auf die Regierungsmehrheit entfallen, von denen 5
wiederum der kleinern Fraktion angehören. Da eine Vorlage, die einem
Ausschuß überwiesen wurde, nur dann dem Plenum wieder vorgelegt wird, wenn
diese sie gebilligt hat, genügen in diesem Falle drei Abgeordnete - nämlich
die Mehrheit der kleineren Regierungsfraktion -, um eine Vorlage zum
Scheitern zu bringen, die von allen anderen 597 Abgeordneten gewünscht wird.
Noch einmal: Demokratie?
Doch weiter im Text - und zwar mit einer Anekdote, die ein halbes
Jahrhundert alt ist. Irgendwann in den 50er Jahren trifft der
CSU-Abgeordnete Hubertus Prinz zu Löwenstein im Bundeshaus einen alten
Freund, der ihm stolz berichtet: "Ich vertrete hier die Stahlindustrie!"
"So?" antwortet der Prinz, "Ich vertrete hier das Volk!" Zum Hintergrund muß
man wissen, daß damals schon der Deutsche Bundestag ein Gesandtenkongreß der
Verbände war. Da der Bundesrat das Verfassungsorgan der
Ministerial-Bürokratie ist, erhebt sich also in der Tat die Frage: Wer
vertritt eigentlich das Volk.
Die richtige Antwort: Niemand.
Die Bundesrepublik Deutschland ist nämlich, wenn ich das in eine Formel
fassen soll, eine Oligarchie unter Einschluß gewisser plebiszitärer
Elemente, die man als Wahlen bezeichnet. Dieser simple Sachverhalt muß aber
möglichst verschleiert werden. Denn wenn das heraus käme, würden sich die
Untertanen der Republik fragen, warum sie noch zu einer Wahl gehen sollen,
die nichts entscheidet? Also muß man so tun als ob - und das geschieht ja
auch.
Mit anderen Worten: Was die Schüler so in ihrem Staatsbürgerkundeunterricht
lernen, stimmt hinten und vorne nicht. Die Menschen spüren das und werfen
deshalb den Vertretern der Parteien zu Recht vor, daß sie sich - ich will
mich höflich ausdrücken - stets etwas anderes meinen, als sie sagen. Solche
Umgangsformen lassen aber ein Vertrauen nicht aufkommen. Es kann vorhanden
sein, weil das ganze System so angelegt ist, daß die tatsächliche Situation
verschleiert werden muß.
Was aber ist zu ändern?
Zunächst ein Wort zum Grundgesetz: Man kann an dem Regelwerk vieles zu
Recht kritisieren, aber es ist im Volk anerkannt. Und das ist ein Gut, das
man nicht leichtfertig auf's Spiel setzen sollte. Im übrigen ließen sich die
nötigen Reformen ins Werk setzen, indem man wenige Gesetze - vor allem die
Geschäftsordnung des Bundestages und das Wahlgesetz - verändert. Aber das
wird nicht geschehen, weil eine solche Reform nur durch die Parteien möglich
ist. Die aber werden nichts tun, was die Macht der anonymen Apparate in
Gefahr bringt. Die politischen Gruppierungen aber von innen heraus zu
reformieren, ist vergebliche Liebesmüh, denn in ihnen haben nicht die
Mitglieder die Macht, sondern die herrschenden Cliquen - was also ist zu
tun?
Wer kann das wissen?
Ich weiß es nicht. Und ich bin glücklicherweise auch zu alt, um mich noch
aktiv einmischen zu können. Aber was sollen die jungen Leute etwa in der
Evangelischen Studentengemeinde tun? Auf keinen Fall darf man der Arroganz
der politischen Akteure die Dogmatik derjenigen entgegensetzen, die meinen
das Gute und Richtige für sich gepachtet zu haben. Es kommt darauf an, die
Situationen in ihrer ganzen Kompliziertheit zu verstehen und sich auf
langwierige und mühsame Entscheidungsprozesse einzulassen. Und das kann mit
ganz banalen Fragen beginnen, etwa derjenigen, ob die SPD wirklich so
dreckig und abweisend ist wie ihr Haus in der Huntestraße. Und wenn die
Gnomen dort zu Pinsel und Farbe greifen, kann man sie vielleicht auch
überreden, die Fenster zu öffnen, um frische Luft in die Büros zu lassen -
ich will damit sagen: Zwingen wir die Parteibonzen trotz ihrer Arroganz, die
wirklich unerträglich ist, dazu, auf die Fragen zu antworten, die diejenigen
stellen, die nicht zur Clique gehören. Vielleicht läßt sich so ein Anfang
machen.
Klaus Dede
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