Oldenburger STACHEL Nr. 234 / Ausgabe 5/02      Seite 15
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Dokumentation:

"Behindert ist man nicht, behindert wird man"

Grußwort für die Gleichstellungsdemo am 5. Mai 2002

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Kolleginnen und Kollegen,

Kein Slogan hat in der Vergangenheit so schlagend deutlich gemacht, daß jedes vermeintlich individuelle Handicap einen gesellschaftlichen Zusammenhang hat, daß es auf die Interpretationen ankommt, die in einer Gesellschaft vorherrschen, was überhaupt als Behinderung angesehen wird.

Der Aufruf zum internationalen Aktionstag und zur Demo für "Gleichstellung" erzielt darum einen (beabsichtigten?) Nachfrageeffekt: Wie, Gleichstellungsdemo? Der internationale Frauentag war doch gerade am 8. März?!

Weil es vor allem um die Gleichstellung behinderter Menschen geht, bleibt etwas Befremden zurück, denn ein Gedanke drängt sich sofort auf: Frauen müssen irgendwie auch Behinderte sein!

Die Forderung nach einer barrierefreien Gestaltung aller Lebensräume weist aber über die gedankliche Verbindung von "Frauen" mit "Behinderung" hinaus. Seit vielen Jahren macht der Begriff "handicaps" im Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit die Runde. Je länger die Massenarbeitslosigkeit anhält, je mehr Erwerbslose gezählt werden, desto mehr wird die Verantwortung von der allgemeinen Ebene, wie diese Gesellschaft Arbeit und Einkommen organisiert und verteilt, auf die Ebene der betroffenen Individuen verschoben. Immer mehr erwerbslose Menschen haben "handicaps", die Schuld daran sind, daß sie nicht vermittelt werden. Sie haben umso mehr "handicaps", je länger sie erwerbslos sind. Ewerbslosigkeit an sich ist zum "handicap" geworden.

Es gehört bei uns zum zynischen Alltagsgeschäft, die Menschen darauf hinzuweisen, daß sie kaum eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben, wenn sie mit einer der folgenden Behinderungen geschlagen sind: Zu alt, zu jung, zu unqualifiziert, zu überqualifiziert, zu Frau - oder wie wir es einmal scherzhaft formuliert haben als sieben todsichere Tips für den Umgang mit dem Arbeitsmarkt:

1. Lerne viele Berufe

2. Habe viel Berufserfahrung

in jedem Beruf

3. Bleib jung

4. Bleib gesund

5. Sei mobil

6. Sei ein Mann

7. Keine Rücksicht

Wir sehen: Erwerbslose sind auch irgendwie Behinderte

Das ist kein Behindertenwitz, sondern gesellschaftliche Realität. Das ist auch keine Verharmlosung "echter" Behinderungen, sondern eine Konsequenz aus der Parole "Behindert ist man nicht, behindert wird man!" Es ist die Überzeugung und die Hoffnung, die wir gemeinsam teilen, daß alle gesellschaftlichen Lebensräume so gestaltet werden können, daß niemand behindert wird, daß es eine Frage gesellschaftlicher Anstrengungen und Schwerpunktsetzungen ist, ob und wie weit auf dieses Ideal hingearbeitet wird.

Die Zeiten stehen schlecht dafür. Wir erleben wohl eher, wie immer mehr Menschen behindert werden, wie die "handicaps" ausgeweitet werden. Wir erleben auch, daß viele Menschen selbst an der Verschiebung dieser gesellschaftlichen Grenze von Behinderung mitwirken, weil sie dem neoliberalen Ideal des modernen Individuums nacheifern: mobil, flexibel, leistungsfähig, kreativ, jung, dynamisch, fit und schön zu sein. Ausgrenzung und Diskriminierung beginnen in den Köpfen.

Gleichzeitig nehmen die Eßstörungen bei Mädchen und jungen Frauen zu, steigt die Zahl der Übergewichtigen, fallen immer mehr Kinder mit Verhaltensstörungen auf, fallen immer mehr Menschen durch Überforderung hinten runter.

"Behindert ist man nicht, behindert wird man!"

Wir sollten diese Parole doch noch einmal überdenken. Sind wir nicht alle irgendwie behindert? Und sollten wir nicht sogar stolz auf unsere Behinderungen sein? Sind sie nicht ein untrügliches Zeichen dafür, daß wir noch menschlich sind? Daß wir noch nicht gleichgeschaltet sind für den kapitalistischen Arbeitsmarkt, die Konsum-Freizeit und den vermeintlichen Spaß übers Bezahlen?

Wir sollten unsere Behinderungen mit einem gewissen Stolz betrachten, weil sie subversiv sind, weil sie zum Innehalten und Nachdenken zwingen über eine sinnlose Beschleunigung des Lebens, ein sinnloses, inhaltleeres und zerstörerisches Wachstum.

"Behindert ist man nicht, behindert wird man!" - Diese Gesellschaft ist nicht behindert, aber sie muß behindert werden!

Für die ALSO und Oldenburg 2000

Michael Bättig

 

 
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