Oldenburger STACHEL Ausgabe 4/02      Seite 14
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Buntstifte statt Rotstift: Malkurs für den Oberbürgermeister

oder: Warum Oldenburg sich ein "Haus der Demokratie" schaffen sollte

"Eine Polis, in der sich jeder auf die richtige Art um sich selbst kümmern würde, wäre eine Polis, die gut funktionierte; sie fände darin das ethische Prinzip ihrer Beständigkeit" (Michel Foucault, Freiheit und Selbstsorge, 1985, S. 15).

Daß von der Bundesebene bis in die kleinste Kommune gespart werden muß, das wird den Bürgerinnen und Bürgern - gebetsartig wiederholend - nicht erst seit gestern verkündigt..

Es muß nicht nur gespart werden, damit der (schnell bewilligte) höhere Etat für die Bundeswehr und ihre weltweiten Kriegseinsätze (Grüne lesen bitte: Friedenseinsätze) bezahlt werden kann. Auch die Steuergeschenke an die Wirtschaft müssen finanziert werden. Der Bund nimmt den Ländern, diese den Kommunen und so geht es bis zur Bürgerin und dem Bürger. Jugendliche, Frauen und sozial schwache Menschen werden (wieder einmal) besonders stark von den Sparprogrammen malträtiert.

Ein Blick auf die Hintergründe der Probleme soll die Zusammenhänge von Globbalisierung, Sparmaßnahmen, Politikverdrossenheit und zivilen Alternativen kurz skizzieren. Und das mit dem Malkurs wird dabei auch noch erklärt.

Eine wesentliche Veränderung durch Globalisierung ist der Umbau des Sozialstaates. Die dabei entstehenden Auswirkungen greifen unmittelbar in die Lebensgestaltung aller Individuen ein. Die biografischen Ordnungsmuster der Bürgerinnen und Bürger erfahren eine reale Transformation oder Dekonstruktion. Die Umbrüche haben zur Folge, daß alles, worauf bisher Lebensentwürfe, Sinnfragen und Handlungsorientierungen gegründet wurden, beliebig und unsicher erscheinen. Die traditionellen, im Verlauf der Moderne sich herausdifferenzierenden Begriffe, Werte und Institutionen werden zunehmend in Frage gestellt und untergraben. Sie bekommen stattdessen eine offene, flexible Bedeutung.

Die Umbrüche, die wir z. Zt. miterleben, sind weder aufzuhalten noch wegzureden. Auffallend dabei ist eine wachsende Ökonomisierung aller Lebens- und Gesellschaftsbereiche. Marktwirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten haben sich in Bereiche ausgedehnt, die bisher durch soziokulturelle Mechanismen geregelt wurden. Soziales, Bildung, Kultur und auch die Politik sollen sich an marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten messen lassen. Genau dies hat Oberbürgermeister Dietmar Schütz im Sinn, wenn er sagt, daß er die städtischen Zuwendungen, die an Vereine, Institutionen oder städtische Beteiligungen fließen, in Zukunft "\ldots besser, gerechter und effizienter einsetzen \ldots" will. Betriebswirtschaftliche Effizienz avanciert so zum Leitbild aller Lebens- und Gesellschaftsbereiche. Die Ökonomie und der Markt entwickeln sich zu den dominanten Vergesellschaftungsmechanismen. Daß den Effizienzgewinnen auf der einen aber massive Integrations- und Solidaritätsverluste auf der anderen Seite gegenüber stehen, scheint selbst einen Sozialdemokraten nicht mehr zu interessieren. Aus der Zeit, als Herr Dietmar Schütz lächelnd in der Fußgängerzone von Oldenburg um die Wählergunst der Einkäufer buhlte, stammt das Wahlversprechen, daß er etwas gegen die Planungsunsicherheit der sozialen Einrichtungen unternehmen will. Soziale Einrichtungen und Errungenschaften, die durch die für sie massiven Streichungen schließen müssen, haben dann tatsächlich keine Planungsunsicherheit mehr.

Die oft zitierte Politik- und Parteienverdrossenheit, die eine tiefe Unzufriedenheit mit dem repräsentativen politischen System signalisiert, ist stetig gewachsen. Diese Unzufriedenheit basiert nicht nur auf den leeren Wahlversprechungen und den Skandalen, sondern gleichzeitig auf den nur begrenzten Partizipationsmöglichkeiten und Partizipationsrechten der Bürgerinnen und Bürger. Demokratie für den Bürger ohne dessen aktive Einbeziehung ist ein Widerspruch in sich selbst. Doch genau dies ist das eigentliche Muster bundesdeutscher Parteiendemokratie. Sinkende Wahlbeteiligung und mangelndes Interesse an Politik gelten als Indizien für Politikverdrossenheit und Entpolitisierung. Es scheint, daß die Bürgerinnen und Bürger in der übersättigten Selbstzufriedenheit einer gleichmachenden Unterhaltungsindustrie versinken. Bei genauer Betrachtungsweise zeichnet sich jedoch ein klarer Gegentrend ab: Es gibt Zeichen dafür, daß die Menschen politisch aktiver geworden sind. Dafür gibt es einen Begriff: Zivilgesellschaft, synonym auch Bürgergesellschaft genannt. Zivilgesellschaft bedeutet eine flexiblere, offenere, aktivere Gesellschaft von Bürgern. Es ist ein Zustand der nichtstaatlichen Selbstorganisation der Menschen, und somit ein menschlicherer Zustand, weil der Mensch als Bürger ernstgenommen wird. Das heißt, daß er nicht mehr als Objekt von Politik betrachtet wird, sondern als Akteur selbst mitgestaltet. Das ist die Idee der Zivilgesellschaft: Das "Zivile" ist nicht jener elitäre oder "bürgerliche" Habitus, den die 68er zu ihrem Feindbild gemacht haben, sondern es meint die Idee der selbstbewussten, eigensinnigen Teilhabe an den Dingen, die mich betreffen und die ich aus Selbstsorge mitgestalten möchte. Die Demonstrationen in Köln, Seattle, Genua, Prag und Göteborg beispielsweise zeigen das Anwachsen einer solchen Zivilgesellschaft, die wachsende Mitgliederzahl von "attac" zeigt es, und daß bei den letzten Berliner Wahlen die jüngste Wählerschaft und die meisten Wähler mit Abitur die PDS gewählt haben, sind weitere Zeichen, die eine ganz prinzipielle Kritik an dieser Gesellschaft und ihren Parteien ausdrückt. Diese ist auch berechtigt; weder Staat noch Wirtschaft mit ihren Steuerungsmechanismen Macht und Geld scheinen geeignet, soziale Sicherung zu gewährleisten. Ob Altersversorgung, Arbeitslosigkeit, neue Armut, Bildung, Gesundheitswesen, Migrationen oder Umweltverschmutzung: Es gibt keine politisch relevanten Aufgabenstellungen mehr, die gegenwärtig nicht die Tendenz aufweisen, einen gewaltigen Zusammenbruch auszulösen, wenn nicht grundlegende Veränderungen stattfinden. Der Konflikt ist demnach vorprogrammiert und das ist gut so. Der Konflikt erst schafft das Potenzial zur Veränderung. Das muß erkannt werden. Selbstsorge der Bürgerinnen und Bürger bedeutet dabei nicht Machtabstinenz. Selbstsorge bedeutet vielmehr, die Regierung seiner selbst nicht anderen passiv zu überlassen, sonst gefrieren Machtbeziehungen in Herrschaftszustände. Selbstsorge ist insofern ein notwendiger Einsatz im "Spiel" der Macht und bedeutet zunächst Konflikt. Viele Bürgerinnen und Bürger sehen die Konflikte (noch) nicht. Sie sind nicht "in Konflikt", aber die Zivilgesellschaft ist ein zutiefst politischer Raum und Konfliktvermeidung würde fatale Folgen nach sich ziehen. In Zeiten des Wandels ist nicht Ruhe, sondern "Unruhe" die erste Bürgerpflicht. Wirkliche Veränderung hängt vor allem vom Widerstand jedes einzelnen, der mit den Idealen der Aufklärung im Hinterkopf und unspektakulär, aktiv und auch abseits der konventionellen Wege handelt. Jeder Mensch ist mitverantwortlich für den Zustand von Gesellschaft. Institutionen der Zivilgesellschaft bieten die Möglichkeit, diese wichtige Verantwortung in die Tat umzusetzen. Es gibt Vorstellungen einer "anderen" Globalisierung. Eine Globalisierung, die diese Welt auf ein standardisiertes Wirtschaft-, Kultur- und Politikmodell reduzieren will, ist abzulehnen.

Die Neuen Sozialen Bewegungen, an ihrer Spitze "attac", wissen, daß Globalisierung unausweichlich geworden ist, aber sie wollen sie so, daß dabei primär die Interessen der Menschen und der Natur gewahrt bleiben, nicht die des Finanzkapitals. "Attac" - die Organisation die mit dem "c" in ihrem Namen den citoyen, die Bürgerin und den Bürger meint - fordert daher eine Ökonomie, die soziale und ökologische Bedürfnisse von Mensch und Natur ernst nimmt. Nur einen freien Handels- und Kapitalverkehr zu betonen und zu hoffen, daß soziale und ökologische Belange "vom Markt geregelt" werden, ist mehr als nur kurzsichtig. Das Versprechen, daß die Liberalisierung des Handels für alle Menschen mehr Wohlstand bringen werde, hat sich definitiv nicht erfüllt und gilt der Politik lediglich als rhetorisches Mittel, die Betroffenen ruhig zu halten.

Die Demokratie lebt immer von der persönlichen Initiative

Ideen, Ressourcen, Fähigkeiten und Kompetenzen der Bürgerinnen und Bürger bieten ein Reservoir von Lösungsansätzen, die noch überwiegend und systematisch ignoriert oder zumindest aus den politischen Entscheidungen herausgehalten werden. Hier zeigt sich das große Potenzial von Bürgerinnen und Bürger in der Zivilgesellschaft: Kreativität. Wem es daran mangelt, greift fantasielos zu den alten Mitteln: Streichungen bei Jugendlichen, Frauen und sozial schwachen Menschen. Daß diese integrations- und solidaritätsvernichtenden Sparmaßnahmen nur einen bedeutungslosen Beitrag in Richtung ausgeglichener Haushalt bedeuten, sei hier nur am Rande erwähnt.

Soziale Fantasie

Die Aussage des Oberbürgermeisters, notfalls auch eine Unternehmensberatung für Oldenburg zu beauftragen, läßt an der kreativen "Effizienz" des Amtsinhabers zweifeln. Warum nutzt er nicht das größte zur Verfügung stehende Potenzial: Oldenburgs Bürgerinnen und Bürger? In der Kunsttherapie wird Malen zur Förderung von Kreativität eingesetzt. Oldenburg sollte seinem Oberbürgermeister einen Malkurs empfehlen, in dem der Umgang mit vielerlei Farben gelehrt wird und nicht nur der mit dem Rotstift.

Eine gelebte Demokratie gründet sich auf einer Kultur zivilgesellschaftlichen Engagements. Dazu gehört auch, daß sich die Bürgerinnen und Bürger im wachsenden Maße als "Mit-Bürger" verstehen lernen, so daß Selbstorganisation, Kooperation und Bürgerbeteiligung an Bedeutung gewinnt. Das Credo einer Zivilgesellschaft lautet, daß, egal wo und wie Probleme auftauchen, diese durch die aktive Beteiligung der Betroffenen gelöst werden müssen. Hierfür gilt es einen Ort zu schaffen: Ein Haus der Demokratie. Ein Demokratiehaus, wo alle ein- und ausgehen, die sich im Rahmen einer pluralistischen Demokratie für zivilcouragiertes Engagement einsetzen. Bürgerschaftliches Engagement soll nicht nach Telefonanschlüssen und Räumen betteln müssen.

T. Betten

 

 
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