Oldenburger STACHEL Ausgabe 3/02      Seite 12
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Buchvorstellung: "Zehn deutsche Männer ..."

Kaffeerevolte oder deutschnationale Erhebung?

Ja, das Ereignis ist lange her, aber heute noch erinnert daran ein Denkmal vor dem alten Hauptportal der Blexer Kirche. Dort steht nämlich auf einer schwarzen Marmortafel:

"Hier wurden am 26. März 1813 zehn deutsche Männer als Opfer der Franzosenherrschaft ohne Untersuchung erschossen. Nun schütze Deutschlands Einigkeit

Vor solcher Schmach uns jederzeit."

In der Schule mußte ich - vermutlich 1944 - diesen Vers auswendig lernen. Er sollte mich und meine Mitschüler daran erinnern, daß damals aufrechte Deutsche sich gegen die französische Besatzung erhoben und ihren Mut mit dem Leben bezahlt hätten. Und der aktuelle Bezug war überdeutlich, denn der Krieg war auch in Blexen allgegenwärtig, und daß die Wehrmacht sich an allen Fronten zurückzog, könnten wir täglich dem Wehrmachtsbericht entnehmen. Da fügte es sich gut, daß dieses Beispiel uns lehrte, was wir von den Siegermächten zu erwarten hatten.

Mich hat der Vorgang Jahrzehnte lang beschäftigt. Es genügte dann ein Zufall - nämlich die Einladung, in der Seefelder Mühle über den Vorgang zu referieren -, um mich näher mit der Sache zu beschäftigen. Das Ergebnis liegt nun in einem Buch vor.

Untersuchung unter
drei Aspekten:

Zunächst habe ich die Frage gestellt, was denn eigentlich die Franzosenherrschaft bedeutete? Meine Antwort: Damals - sagen wir im Jahre 1811, also vor dem unglückseligen Feldzug des Kaisers gegen Rußland - war das, worum sich heute die politische Elite abmüht, Realität, nämlich das einige Europa. Meine These: Wenn sich das "Grand Empire" hätte konsolidieren können, dann wären dem Kontinent sicher nicht die Revolutionen des 19. Jahrhunderts, wohl aber die Weltkriege des 20. erspart geblieben, weil dann das zerstörerische Prinzip des Nationalismus, und vor allem des inhumanen deutschen Nationalismus, nicht zum Tragen gekommen wäre. Fremdherrschaft? Natürlich war für die Blexer das Regiment der Franzosen zunächst fremdbestimmend, aber das der Gottorps war es auch und ebenso das der Dänen, der Russen, der Holländer und wer immer sonst das Sagen hatte, ebenso. Selbstbestimmt entscheiden konnte das deutsche Volk über die Frage, ob es überhaupt einen Staat bilden wolle und wenn ja, welchen, nur einmal - nämlich im Januar 1918, anläßlich der Wahl der Deutschen Nationalversammlung, und das Ergebnis dieser Abstimmung ist zwar vom deutschen Volk seither in unzähligen Wahlen bestätigt, von den Deutschnationalen aber nie akzeptiert worden - sehr zum Schaden des Landes, wie wir heute wissen.

Frage zwei

Meine zweite Frage lautete: Was ist denn damals eigentlich passiert? Meine Antwort: Zunächst haben im März 1813 französische Soldaten, die vor dem Feind standen - denn Blexen befand sich in der Frontlinie - gegen ihren Kommandeur gemeutert, ein Verbrechen, das in allen Armeen der Welt, besonders aber in der deutschen, seit jeher mit dem Tode bestraft wurde*. Wenn hier also von einem Verbrechen die Rede sein kann, dann allenfalls in einem Fall: Auf der Blexer Batterie, um die es ging, befand sich nämlich auch ein buckliger Schustergeselle, der irgendwie in den Schlammassel hineingeraten war und deshalb auch erschossen wurde. Auf diesen Mann trifft die Inschrift des Denkmals zu - auf die anderen nicht. Dennoch: Das Ganze war schrecklich und auch überflüssig, denn der Zusammenbruch des "Grande Empire" ließ sich durch solche "Maßnahmen" (im Sinne Brechts) nicht aufhalten. Alles richtig, aber haben wir das Recht, uns moralisch aufzuplustern? Ich denke an die über 200 sowjetischen Soldaten, die 1942 - sicherlich nicht mit Billigung der Blexer, wohl aber vor ihren Augen - ermordet wurden, indem sie eine gewissenlose Wehrmachtsverwaltung verhungern ließ. Ein jeder kehr' vor seiner Tür ...

Frage drei

Und schließlich habe ich gefragt, was denn aus dieser Geschichte wurde. Zunächst einmal nichts. Herzog Peter Friedrich Ludwig kümmerte sich nicht die Bohne um die unglücklichen Opfer der Blexer Kaffee-Revolte - ihm waren die adligen Beamten, die von den Franzosen erschossen wurden, wichtiger, denn sie konnten mit einigem Geschick zu Martyrern der Gottorpischen Herrscher-Legende hochstilisiert werden. Das war bei den Blexer Soldaten nicht möglich, also ließ man sie in ihrem namenlosen Grab ruhen, wo man im übrigen die begrub, die von der Weser angespült wurden und die man weiter nicht unterbringen konnte. Diese Mißachtung wurde korrigiert, als der Historiker Häußer entdeckte, wie gut die Blexer Kanoniere als Martyrer der deutschnationalen Ideologie zu verwenden waren. So entstand denn die Legende von den aufrechten Friesen, die der französischen Fremdherrschaft widerstanden und deshalb den Tod erlitten und wurde denn von den Schulmeistern des Landes hartnäckig am Leben erhalten. Allerdings hatten sie sozusagen ein Vorbild: den Oldenburger Gymnasialprofessor Ricklefs. Ihm verdanken wir nicht nur die Informationen, die wir über den Vorgang haben, er ist zugleich ein besonders übles Beispiel eines gewissenlosen nationalen Agitators. Ihn stelle ich also ausführlich vor.

Die regionalpolitische Debatte

Das Ganze sei, so versichert mir ein freundlicher Rezensent, spannend wie ein Kriminalroman. Wenn es so sein sollte, wäre ich nicht böse - schließlich bin ich von Beruf Journalist und freue mich, wenn es mir gelungen sein sollte, eine gute Geschichte zu erzählen, aber das ist natürlich nicht alles. Ich möchte mit meinem Buch, in dem ich eine deutschnationale Legende töte, einen Beitrag zur regionalgeschichtlichen Debatte leisten, die in Oldenburg eben nicht stattfindet, jedenfalls nicht offen. Ich möchte den gegenwärtigen Charakter der Kommunikation zwischen den zuständigen Instanzen nicht weiter charakterisieren, aber einmal auflisten, welche Themen in Oldenburg nicht bearbeitet werden:

Sprachgeschichte

In meinem Heimatdorf Blexen sprach man im Mittelalter Friesisch, jedoch wurde es in dem Maße, wie die Friesen verschwanden und die Sachsen nachrückten, vom Sächsischen ersetzt. Dieses hinwiederum verschwand, obwohl die Sachsen am Ort blieben, und wurde mehr und mehr einerseits zur Bühnensprache, andererseits zum Idiom von Unter- und Randschichten. Heute ist es ganz untergegangen, ja, es hat selbst seinen Namen eingebüßt, denn man spricht jetzt vom "Plattdeutschen", also einem minderwertigen Deutsch. Wie ist das geschehen? Wer hat das ins Werk gesetzt und warum? Die Brisanz des Themas wird deutlich, wenn wir zugleich fragen, warum sich das Hochdeutsche gegen das Französische, das in den Eliten des 17. und 18. Jahrhunderts die gängige Umgangssprache war, behaupten konnte. Wo also ist das Werk, das uns den Untergang der sächsischen Sprache schildert? Ich kenne es nicht.

Phasen der Reformation

Die Geschichte der Reformation vollzieht sich in drei Phasen: Im 15. Jahrhundert erleben die Menschen im Nordwesten Deutschlands eine Art Erweckungsbewegung - die devotio moderna - die von den Niederlanden herkommt und die Gemüter prägt. Sie macht die Reformation eigentlich erst erklärlich, die im 16. Jahrhundert in Oldenburg durch den Grafen Anton I. eingeführt wird. Als Datum wird in der Regel das Jahr 1529 genannt, aber erst 1573 erläßt sein Nachfolger Johann XV. eine Kirchenordnung. Was ist in den 44 Jahren, die zwischen diesen beiden Daten liegen, passiert? Man bedenke, daß die Menschen damals allenfalls 30 Jahre lebten und daß es also Gläubige gab, die den katholischen Glauben nicht mehr und den lutherischen Glauben noch nicht kennengelernt haben - welche Konsequenzen hatte das? Eine, wie ich meine, wichtige Frage, aber wo ist die Antwort?

Totalitärer "Parochialzwang"

Die lutherische Kirche unterwarf im 16. und 17. Jahrhundert die Menschen dem "Parochialzwang" und lieferte sie damit einer Kontrolle aus, die theoretisch lückenlos war. Ich bin der Meinung, daß die lutherischen Landeskirchen, darunter natürlich auch die Oldenburgische, die ersten totalitären Gesellschaftssysteme bildeten, die indes, das ist das Erstaunliche, bereits im 17. Jahrhundert scheiterten. Wie konnten sie sich etablieren und warum scheiterten sie?

Eine Legende

Eine der Oldenburgischen Symbolfiguren ist der Graf Anton Günther, der der politischen Elite in Oldenburg so wichtig ist, daß der frühere Landtagspräsident Horst Milde die Errichtung eines Denkmals für diesen Landesherrn betreibt. Wer aber nach einer Biographie dieses edlen Herrn sucht, die wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht wird, sieht sich enttäuscht. Warum fehlt sie? Ist er vielleicht doch nicht so bedeutend gewesen wie Horst Milde meint? Oder steht zu befürchten, daß das Ergebnis einer solchen Bemühung die Legende zerstört?

Die dänische Herrschaft

Die Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst waren etwas über 100 Jahre lang dänisch. In der Oldenburgischen Geschichte ist die Dänenzeit eine Epoche, in der scheinbar nichts passiert ist. Die Zeit wird in der regionalen Geschichtsschreibung nicht unbedingt negativ bewertet, aber auch nicht positiv - sie kommt im Grunde nicht vor, warum nicht?

Die französiche Herrschaft

Ganz anders dagegen die Franzosenzeit. Sie wird absolut negativ bewertet. Die Franzosen erscheinen als die Fremden, die nur Böses im Sinn hatten, was von denen, die sich mit der Zeit näher beschäftigt haben, nicht bestätigt wird - wie auch immer: eine präzise Darstellung dessen, was die französische Regierung ins Werk gesetzt hat und was sie beabsichtigte, gibt es nicht und wieder stellt sich die Frage, warum das so ist - befürchtet man, daß das Ergebnis nicht dem Vorurteil entspricht?

Die Wirtschaft

Wer eine Oldenburgische Wirtschaftsgeschichte sucht, wird keine finden - sie existiert nicht. Und warum nicht? Hat man vielleicht Angst, daß die politischen Leistungen der Oldenburgischen Fürsten doch nicht so glänzend sind, wie es scheint?

Herzog P. F. Ludwig

Der Herzog Peter Friedrich Ludwig ist die Lichtgestalt unter den Oldenburgischen Fürsten, und in der Tat kann man die Institutionen des ehemaligen Landes, die heute noch bestehen, auf ihn zurückführen, so die Sparkasse, die Landesbibliothek, das Landesmuseum, den Schloßgarten und - cum grano salis - die heutige Carl-v.-Ossietzky Universität. Indes: Wie erklärt sich der Reformeifer des Herzogs vor seinem Exil in Rußland und seine Blockadepolitik danach? Wie ist es zu erklären, daß es eben dieser Herzog war, der nach seiner Rückkehr jede liberale Regung in seinem Ländchen unterdrückte? Warum hat der Herzog sich nicht darum bemüht, im Jahre 1814 Ostfriesland für sich zu erwerben? Warum hat er sich mit dem abgelegenen und wertlosen Birkenfeld begnügt? Warum ist er damals nicht, wie er es hätte tun müssen, nach Wien gefahren, um dort seine Interessen unmittelbar zu vertreten? Alles Fragen, die nicht beantwortet werden.

Fehlende Biographien

Von keinem der Oldenburger Fürsten gibt es eine anständige Biographie. Im Falle des Herzogs Peter Friedrich Ludwig und seines Sohnes Paul Friedrich August würde sich das wahrscheinlich lohnen, zumal sie beide ihre Spuren im Oldenburger Stadtbild hinterlassen haben. Nikolaus Friedrich Peter war unglaublich dumm und dürfte schon aus diesem Grunde sehr langweilig sein, aber er hat auch nichts bewirkt, wenn wir einmal davon absehen, daß er, wenn auch erfolglos, versucht hat, die Industrialisierung seiner Staaten zu verhindern. Sein Sohn indessen, Friedrich August, ist schon deshalb eine interessante Persönlichkeit, weil er wahrscheinlich er einzige Bundesfürst war, der als Erbprinz eine Wirtshausschlägerei angezettelt hat und zwar standesgemäß im Wartesaal 1. Klasse in Leipzig. Auch hier: Schweigen im Walde.

Keine Kulturgeschichte des Dorfes

Es fehlt weiter eine Kulturgeschichte des Dorfes, wobei ich vor allem an das 19. Jahrhundert denke. Wie wurde gearbeitet? Wie wurde gefeiert und vor allem was? Wer organisierte im Dorf? Wo steht, wie die Obstbäume ins Dorf kamen, wie der Gartenbau gefördert wurde und wie man die berühmten Bauerngärten der Marsch gestaltete? Wie entstanden die Vereine und welche Funktion hatten sie? Auch hier gilt: Es gibt zwar diesen oder jenen Aufsatz, diesen oder jenen Splitter - eine Gesamtdarstellung fehlt.

Sozialgeschichte der Schule

In diesem Zusammenhang seien die Lehrer genannt, die sich in einem langen und mühevollen Prozeß von der Kirche emanzipiert haben. Wie ist das geschehen? Ich meine also nicht nur eine Darstellung der pädagogischen Dogmen und Moden, sondern eine Sozialgeschichte der Schule. Wo ist sie?

Dogmengeschichte

Das bringt uns zu dem Thema "Kirche". Was wir auf diesem Felde haben, ist eine Dogmengeschichte und zwar geschrieben aus der Sicht des Oberkirchenrats. Wir wissen also ziemlich gut, was die Pastoren glauben sollten, aber wir wissen nur ansatzweise, wer denn eigentlich im Schiff saß und hörte und was dort, bei den mehr oder weniger Gläubigen, ankam.

Liberalismus versus
Deutschnationalismus

Wenn wir durch Oldenburg gehen, bemerken wir die erstaunliche Leistungen, die in den kurzen echten Friedensjahren zwischen den beiden Weltkriegen vollbracht wurden. Ich denke hier an die beiden Huntebrücken, dann an die heutige Paulusschule, die Volksschule in Osternburg, aber auch an die Umgehungsstraße und an den Flugplatz - sicher habe ich einiges vergessen. Hinzu kommen die Politiker-Persönlichkeiten wie Tantzen und Goerlitz. Man könnte hier in Oldenburg sehr schön dokumentieren, was liberale Politik dem Lande brachte, nämlich Wirtschaftsförderung im weitesten Sinne und damit auch mehr Bildung, während die Kulturleistung der Deutschnationalen in Kasernen, Kriegerdenkmälern und Soldatenfriedhöfen bestand. Man sollte meinen, daß das in Oldenburg ein Thema sein könnte, aber gibt es eine Monographie über die Geschichte des Liberalismus in Oldenburg? Ich wüßte nicht.

Eine Hälfte

Natürlich haben wir inzwischen eine ganze Bibliothek über das Schicksal der Oldenburgischen Juden. Dank Enno Meyer wissen wir faktisch von jedem, der Jude war oder als solcher bezeichnet wurde, welches Schicksal er in der Nazizeit erlitten hat: ob er eines natürlichen Todes starb, ins Exil ging oder ermordet wurde und, falls das der Fall war, wo das geschah. Diese Leistung will ich keineswegs kleinreden - sie ist wichtig und begrüßenswert, aber doch nur die eine Hälfte der Geschichte. In jedem Kriminalroman tritt dann, wenn die Leiche entdeckt wurde, der Kommissar auf, der den Tatort besichtigt und den Mörder findet, also: wer waren die Täter und wo sind sie?

Die Kehrseite der Geschichte

Ich kann das auch etwas genauer sagen: In Oldenburg war die NSDAP, wenn wir ihre Vorläufer und Nachgänger mitzählen, von etwa 1921 bis weit in die fünfziger Jahre eine politische Kraft, die zeitweilig sogar bestimmend war und deren Ideologie, wie sich in der Debatte über die Ehrenbürgerschaft des Nazis August Hinrichs zeigte, bis heute nachwirkt. Wo ist die Geschichte dieser "Bewegung" im ehemaligen Lande Oldenburg? Warum wurde sie nie geschrieben?

Der Anti-Semitismus

Auf der anderen Seite wäre der Antisemitismus ein Thema. Er prägte jahrhundertelang die Stimmung im Lande, aber es gab eine kurze Zeit, in der sich im Oldenburgischen Bürgertum Widerstand dagegen regte, der aber unter dem Druck der Völkischen rasch erlahmte. Ich gebe zu, daß ich das Thema angerissen habe, aber in einer höchst unzulänglichen Weise, denn es wäre mehr darüber zu sagen, aber wer hat das getan?

Die Medien

Die Nachrichten für Stadt und Land waren bis 1943 die führende Zeitung in Oldenburg. Sie war sicherlich national, aber keineswegs nationalsozialistisch. Wenn man ihr etwas vorwerfen kann, dann, daß sich ihr Chefredakteur Busch sehr den Zeitströmungen anpaßte, so auch dem Nazismus, als dieser im Aufstieg begriffen war, aber man kann auch sagen, daß er sich sofort abwandte, so bald sich das Blatt zu wenden schien, was im November 1932 für kurze Zeit der Fall zu sein schien. Die Nazis haben das offenbar dem Verleger Scharf übel genommen, denn er wurde zur Wehrmacht eingezogen und seine Zeitung nach Stalingrad 1943 verboten. Nach der Befreiung gründete Fritz Bock die heutige Nordwest-Zeitung, die sich dann durchsetzte. Was ist hier passiert? Gibt es eine Arbeit über das Ende der Nachrichten und den Aufstieg der NWZ?

Fritz Lucke, Parteimitglied

In Oldenburg war der Chefredakteur der NWZ, Fritz Lucke, lange Jahrzehnte hindurch eine Institution als politisches Sprachrohr des Establishments der Stadt. Ich befürchte, daß seine Leitartikel nur von wenigen gelesen wurde, aber das bedeutet nicht, daß sie unwichtig waren - im Gegenteil: sie spiegeln vermutlich sehr genau, was die Gruppe, die man in Frankreich als "tout Oldenbourg" bezeichnen würde, in den Jahrzehnten des Kalten Krieges dachte, also was damals als politisch korrekt galt. Nun war Fritz Lucke, als er nach Oldenburg kam, bereits ein älterer Mann - er hatte also eine Biographie hinter sich, konkret: Er war in der Nazizeit Chefredakteur des Nachtausgabe gewesen. Margret Boveri lernte Lucke in diesen Jahren kennen und urteilte damals über ihren Kollegen: "Aber die meisten von der sogenannten bürgerlichen Presse waren entweder Nazis oder taten wenigstens so, an erster Stelle Fritz Lucke von der Nachtausgabe, ein Trumm von Mannsbild, groß im Angeben und im Trinken, sicher ein hervorragender Zeitungstechniker; er hatte die Nachtausgabe hochgebracht, war langjähriges Parteimitglied."[1] Es wäre doch nun interessant, das, was Lucke als Chefredakteur der Nachtausgabe schrieb oder schreiben ließ mit dem zu vergleichen, was er in derselben Funktion in der Nordwest-Zeitung produzierte - gab es da Übereinstimmungen, gab es Gegensätze, und wenn, wie sind sie zu erklären? Eine solche Arbeit wäre um so leichter zu verfertigen, als es zumindest noch solche Journalisten gibt, die mit Lucke eng zusammengearbeitet haben, so wie ich ja auch vermute, daß sein Sohn, der Bankdirektor Lucke, gerne den Nachlaß seines Vaters für eine wissenschaftlich fundierte Biographie zur Verfügung stellen dürfte. Daß die Oldenburgische Landschaft ein solches Vorhaben fördern würde, können wir als sicher unterstellen. Damit soll es hier sein Bewenden haben.

Der Mantel des Schweigens

All diese Themen, und die Liste ist keineswegs vollständig, sind in einem stillschweigenden Konsens der Beteiligten von der Erörterung ausgeschlossen. Und das ist so, weil die moralischen Instanzen dieser Stadt, also Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, die Jüdische Gemeinde, aber auch die Oldenburgische Landschaft und der Rotary-Club - ich hoffe, daß ich niemanden vergessen habe - die offene Diskussion verhindern, weil dann die deutschnational-christliche (und damit antisemitische) Religion, die heute den Konsens der politischen Elite bildet, angesprochen werden könnte. Wer das aber tut, diese Indeologie infragestellt, vielleicht sogar als in sich verwerflich bezeichnet, hat natürlich nicht mit Widerspruch zu rechnen - das könnte ja der Beginn genau der Diskussion sein, die es aus Sicht der moralischen Instanzen Oldenburgs zu vermeiden gilt -, sondern mit sozialer Ächtung, und das ist eine Erfahrung, die ich niemandem wünsche. Mit meinem Buch möchte ich dazu beitragen, daß genau diese Blockade gebrochen wird.

Worum es in dem Buch geht

Zunächst einmal, daß die Legende von den deutschnationalen Friesen, die sich gegen die französische Fremdherrschaft erhoben und tapfer kämpfend ihren Mut mit dem Leben bezahlten, nicht zutrifft. Denn in dem dramatischen Geschehen in Blexen ist vom deutschen Nationalismus überhaupt nicht die Rede ist. Alle Beteiligten verfolgten ihre mehr oder weniger eigensüchtigen Motive und wollten vor allem ihre Haut retten. Daß irgend jemand bewußt für das Wohl des Deutschen Volkes in den Tod gegangen wäre, trifft einfach nicht zu. Die Folgerung ist, daß das Nationalbewußtsein kein ursprüngliches Gefühl ist, das der Mensch hat, sondern eine Idee, die er haben soll und die den Blexern erst nachträglich - und zwar sehr viel später - von Pastoren und Lehrern eingetrichtert wurde, das allerdings, wie wir aus dem Verlauf der beiden Weltkriege ersehen, mit großen "Erfolg", den wir aus heutiger Sicht nur bedauern können.

Im März 1813 handelten alle Blexer so, daß sie hoffen konnten, ohne Schaden aus der Situation, die sich aus der Kaffeerevolte ergeben hatte, herauszukommen. Das war der Zweck, den sie selbst mehr oder weniger bewußt definiert hatten und dem sie die Mittel, die sie hatten, unterordneten. Ricklefs mutete ihnen zu, daß sie sich für die Idee des deutschen Nationalismus opfern sollten. Das haben die Blexer im Jahre 1813 nicht getan, wohl aber die Soldaten, die am 10. November 1914, das Deutschlandlied auf den Lippen, vor Langemarck gegen die englischen Stellungen stürmten und dabei elend verreckten - eine Heldentat, sagen die Deutschnationalen; ein Verbrechen, sage ich, das dann diejenigen von Verdun, Auschwitz und Solingen nachsichzog. Daraus folgt: Wenn wir auf eine Lehre, ein Dogma - einen "-ismus" stoßen, der vorschreibt, wie sich Menschen zu verhalten haben, ist die Selbstbestimmung ausgeschlossen, dann der Mensch wird einem fremden Interesse untergeordnet und damit Opfer und zwar ein Opfer irgendeiner Religionspolizei, möge diese nun von muslimischen Mullahs, katholischen Priestern, evangelikalen Pastoren oder jüdischen Rabbinern gestellt werden - sie alle stehen im Dienst egoistischer Interessen, die natürlich als gemeinnützig deklariert werden. Gemeinsam ist ihnen, daß sie Unterwerfung verlangen, denn sie kennen keinen Diskurs und keine Toleranz - maßgebend ist, was ihre Lehre vorschreibt und zwar in der Interpretation, die derjenige vorgibt, der sie authentisch interpretiert - da mag nun der Papst sein oder der Führer oder sonst wer. sein. Der Dogmatismus, egal ob er im christlichen, islamischen, jüdischen, kommunistischen oder sonst einem Gewande daherkommt, ist also die Gefahr, und zu diesen unterschiedlichen Lehren gehört natürlich auch - und in unserem Staat in erster Linie - der deutsche Nationalismus. Ihn definiere ich als Religion und zwar als die übelste, die die menschliche Phantasie bislang ausgebrütet hat, oder kann mir jemand sagen, was schlimmer ist als Auschwitz?

Das Buch über die Blexer Kaffeerevolte ist also zunächst ein regionalgeschichtliches Werk, darüber hinaus aber auch eine Auseinandersetzung mit der Religion des deutschen Nationalismus, der ja hier in Oldenburg von allen Parteien - ausgenommen die PDS und die Grünen - vertreten wird, wie sich in der Debatte über den Nazi-Ehrenbürger August Hinrichs gezeigt hat. Und damit habe ich ein Thema bearbeitet, das zwar mit der Vergangenheit zu tun hat, zugleich aber unsere Zukunft betrifft.

Klaus Dede

[1] Margret Boveri: Verzweigungen. 1977, S. 268

* (So selbstverständlich "verbrecherisch" ist mir die Desertion nicht. Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit, Desertion deshalb konsequent, die Todesstrafe barbarisch. d. LektorIn)

Klaus Dede: "Zehn deutsche Männer ...", Die Erschießung der fahnenflüchtigen Kanoniere vor der Blexer Kirche im Jahr 1813; Kaffeerevolte oder deutschnationale Erhebung, 2001 by "Atelier im Baurnhaus", 271 S., Leinen, reich illustriert; Preis: € 19,80

 

 
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