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Atomnonsens im grünen Paket
Atombetreiber dürfen "Laienpublikum" belügen
Auch die Anschläge vom 11. September haben kein Umdenken in der
Atompolitik bewirkt. Weder wird das Risiko neu bewertet, noch werden
die alten Fehler der Vergangenheit ausgeräumt. Falsche
Sicherheitsbehauptungen aus den Gründerjahren der Atomnutzung seien
kein Grund, die Zuverlässigkeit der Betreiberfirma in Frage zu
stellen, meint die Aufsichtsbehörde.
Unerhörte Warnungen
Kritische Experten, die in den 70er/80 Jahren das Risiko von
terroristischen Anschlägen auf Atomkraftwerke geltend machen wollten,
hatten keinen leichten Stand. Mindestens fuhr man ihnen in Anhörungen
und Prozessen über den Mund, im schlimmeren Fall stellte man ihre
Seriosität in Frage. Die Atomindustrie ließ von wissenden Politikern,
Soziologen und Juristen verkünden, daß terroristische Anschläge dieser
Art unmöglich seien, Attentäter mit Selbstmordabsichten seien
undenkbar, die Anwendung schwerer Waffen ausgeschlossen. Der Absturz
eines Verkehrsflugzeuges gehöre nicht zu den realistischen Szenarien,
hieß es, ein Ausweichen sei den Piloten auch in den kritischsten
Situationen immer noch möglich.
Das Undenkbare
Hand aufs Herz: Wer von den Kritikern hat an den Realitätsgehalt
dieser Einwände selbst geglaubt? Zwar wurden sie unermüdlich
vorgebracht, blieben aber eine Art rituelle Beschwörung aller
denkbaren Risiken. Die Legitimation dazu nahmen sich die Kritiker aus
der unmittelbar plausiblen Einsicht, daß die Existenz von AKWs
angesichts ihres verheerenden Vernichtungspotentials nicht sein
darf. Jedem Menschen mit Phantasie und technischem Verstand leuchtet
ein, daß man die Bedingung, unter der die Nutzung dieser Technologie
einzig tolerabel wäre, niemals wird erfüllen können, nämlich den
hundertprozentig sicheren Betrieb. Gleich, wieviel Möglichkeiten des
Versagens einem einfallen wollten, egal, welche Verkettungen
unglücklicher Umstände man konstruieren kann, unabhängig von der
Vollständigkeit der aufgezählten Risiken - nie würde man alle
Szenarien durchspielen können. Die Freisetzung großer vernichtender
Mengen Radioaktivität ist untrennbar verbunden. Tschernobyl hat dies
gezeigt, andere Tschernobyls werden folgen.
Betriebsgarantie
ohne Umweltverbände
Nun ist aber durch die Selbstmordattentate vom 11. September 2001
ein durchaus bekanntes, hinreichend beschworenes, aber bis dato nicht
anerkanntes Risiko schlagartig in der Wirklichkeit angekommen. Die Art
und Weise, wie die Politik auf diese Herausforderung defensiv
reagiert, wirft ein Schlaglicht auf das Kleingedruckte im
"Atomkonsens". Dieser unter Ausschluß der Umweltverbände
zustandegekommene Vertrag soll den ungestörten Weiterbetrieb der AKWs
bis zum Anschlag ihrer technischen Lebensdauer garantieren. Der
11. September mag eine weltweite Erschütterung ausgelöst haben, die in
Deutschland zum Abschied von Enthaltsamkeit bei kriegerischen
Unternehmungen, Nichteinmischung, Verteidigungsprinzip, Schutz der
bürgerlichen Freiheitsrechte geführt hat - an der Atompolitik hat sich
nichts geändert.
Behördliche Kollaboration
Wenn es noch eines Beweises für den atomkonsensuellen Schulterschluß
der Behörden mit der Atomindustrie beduft hätte, dann wurde dieser
jetzt vom niedersächsischen Umweltministerium nachgeliefert. Im Rahmen
der Erörterungen gegen die "Zwischenlagerung" von abgebranntem Uran
beim AKW Esenshamm beantwortete die Jüttner-Behörde kürzlich einen
Einwand, der im Juni dieses Jahres vorgebracht worden war. Sachverhalt
war, daß der Betreiber des Atommeilers, die Firma Eon, vor und während
des Betriebsbeginns der Anlage in den Jahren 1976 - 1980 eine
Werbebroschüre in Umlauf gebracht hatte, die gerade in den
sicherheitstechnischen Fragen nicht mit Unwahrheiten geizte - auch
bekannt als Lügen.
Persilschein für Tschernobyl
Unter anderem erklärt die Betreiberfirma, die sich damals noch NWK
nannte (Nordwestdeutsche Kraftwerke), daß es einen schweren Unfall mit
radioaktiven Freisetzungen (SuperGAU) nicht geben könne. Dazu zitiert
sie Gutachten des Technischen Überwachungsvereins (TÜV), die sie so
interpretiert, daß der Ausschluß nicht nur für die deutschen AKWs,
sondern "für alle auf der Welt betriebenen oder in Bau befindlichen
Anlagen gilt". Da die sowjetrussische Anlage von Tschernobyl zu jener
Zeit in Bau war, übernahm die NWK also Gewähr für die Sicherheit des
späteren Katastrophen-Reaktors. Ebenso für das amerikanische AKW
Harrisburg, dessen Kern im Jahr 1979 unter Abgabe hoher Mengen
Radioaktivität zusammenschmolz. Die NWK behauptete also Sachverhalte,
die sich nachträglich als falsch herausstellten. Offenkundig hat sie
sich nie vom Wahrheitsgehaltes ihrer Angaben überzeugt.
Atomindustrie ist unzuverläßig
Der Einwand sollte nachweisen, daß die damalige NWK und mithin die
heutige Eon es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen, wenn es den
Betriebsinteressen dient, und daß ihnen von daher die besondere
Zuverlässigkeit abgesprochen werden müsse, die vom Atomrecht
eingefordert wird. Die Antwort der Atomaufsichtsbehörde liest sich nun
folgendermaßen: "Die in Rede stehende Broschüre versucht im
Frage-Antwort-Stil allgemeinverständlich ein Laienpublikum über die
Kernenergie zu informieren. Dabei geht die Broschüre ohne Bezug auf
eine konkrete Anlage auf typische Fragen zur Kernenergienutzung ein;
sie wurde jedoch durch die Betreiberin des Kernkraftwerks Unterweser
nicht in atomrechtlichen Verfahren zur Errichtung und zum Betrieb der
Anlage eingeführt und ist nie Grundlage für die hiesigen
atomrechtlichen Prüfungen und Entscheidungen gewesen. Der Autor der
Broschüre gehörte daneben nicht dem Personal des Kernkraftwerkes
Unterweser an, so daß aus der Broschüre und derem Autor heraus keine
Zweifel an der Zuverlässigkeit der Betreiberin begündbar sind."
Atombetreiber dürfen lügen
Wir lernen also: Atombetreiber dürfen (wie) gedruckt lügen -
gegenüber einem "Laienpublikum" natürlich nur. Denn Laien verstehen
keine andere Sprache, und verdienen sie auch nicht. Ob damit Menschen
in falsche Sicherheiten gewiegt werden oder Mehrheiten unter
Vorspiegelung falscher Tatsachen zustande kommen, scheint die Behörde
nicht zu interessieren und den Tatbestand der Zuverlässigkeit nicht zu
berühren. Wenn Werbung lügen darf (was wir schon wußten) und atomare
Sicherheitsfragen mit Werbung beantwortet werden dürfen (was wir schon
ahnten), dann lautet der Schluß: Atombetreiber dürfen lügen, ohne als
unzuverlässig zu gelten.
Wahre Zuverlässigkeit
Dann ist ja alles klar. Keine Zweifel mehr an der Zuverlässigkeit
der Firma Eon und ihrer Atomwerbung. Höchstens noch an der
Zuverlässigkeit derer, die die Zuverlässigkeit überprüfen. Aber die
haben ja im Energiekonsens eine zuverlässige Grundlage.
Bleibt nur anzumerken, daß der Autor jener Broschüre dem
Ministerium für Staatssicherheit der DDR angehörte und sich durch
Flucht absetzte. Irgendwie paradox: standen die Atomkritiker doch
ständig unter dem Verdacht, ihre breite Protestbewegung sei von der
DDR finanziert. Wie oft mußten sie sich sagen lassen: "Geht doch nach
drüben!". Wer hätte gedacht, daß die westdeutschen Atomkonzerne viel
pikantere Beziehungen nach "drüben" hatten als ihre Kritiker. Das
scheint allerdings ihrer Zuverlässigkeit weder damals noch heute
geschadet zu haben.
IMH
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