Oldenburger STACHEL Ausgabe 1/02      Seite 6
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Atomnonsens im grünen Paket

Atombetreiber dürfen "Laienpublikum" belügen

Auch die Anschläge vom 11. September haben kein Umdenken in der Atompolitik bewirkt. Weder wird das Risiko neu bewertet, noch werden die alten Fehler der Vergangenheit ausgeräumt. Falsche Sicherheitsbehauptungen aus den Gründerjahren der Atomnutzung seien kein Grund, die Zuverlässigkeit der Betreiberfirma in Frage zu stellen, meint die Aufsichtsbehörde.

Unerhörte Warnungen

Kritische Experten, die in den 70er/80 Jahren das Risiko von terroristischen Anschlägen auf Atomkraftwerke geltend machen wollten, hatten keinen leichten Stand. Mindestens fuhr man ihnen in Anhörungen und Prozessen über den Mund, im schlimmeren Fall stellte man ihre Seriosität in Frage. Die Atomindustrie ließ von wissenden Politikern, Soziologen und Juristen verkünden, daß terroristische Anschläge dieser Art unmöglich seien, Attentäter mit Selbstmordabsichten seien undenkbar, die Anwendung schwerer Waffen ausgeschlossen. Der Absturz eines Verkehrsflugzeuges gehöre nicht zu den realistischen Szenarien, hieß es, ein Ausweichen sei den Piloten auch in den kritischsten Situationen immer noch möglich.

Das Undenkbare

Hand aufs Herz: Wer von den Kritikern hat an den Realitätsgehalt dieser Einwände selbst geglaubt? Zwar wurden sie unermüdlich vorgebracht, blieben aber eine Art rituelle Beschwörung aller denkbaren Risiken. Die Legitimation dazu nahmen sich die Kritiker aus der unmittelbar plausiblen Einsicht, daß die Existenz von AKWs angesichts ihres verheerenden Vernichtungspotentials nicht sein darf. Jedem Menschen mit Phantasie und technischem Verstand leuchtet ein, daß man die Bedingung, unter der die Nutzung dieser Technologie einzig tolerabel wäre, niemals wird erfüllen können, nämlich den hundertprozentig sicheren Betrieb. Gleich, wieviel Möglichkeiten des Versagens einem einfallen wollten, egal, welche Verkettungen unglücklicher Umstände man konstruieren kann, unabhängig von der Vollständigkeit der aufgezählten Risiken - nie würde man alle Szenarien durchspielen können. Die Freisetzung großer vernichtender Mengen Radioaktivität ist untrennbar verbunden. Tschernobyl hat dies gezeigt, andere Tschernobyls werden folgen.

Betriebsgarantie
ohne Umweltverbände

Nun ist aber durch die Selbstmordattentate vom 11. September 2001 ein durchaus bekanntes, hinreichend beschworenes, aber bis dato nicht anerkanntes Risiko schlagartig in der Wirklichkeit angekommen. Die Art und Weise, wie die Politik auf diese Herausforderung defensiv reagiert, wirft ein Schlaglicht auf das Kleingedruckte im "Atomkonsens". Dieser unter Ausschluß der Umweltverbände zustandegekommene Vertrag soll den ungestörten Weiterbetrieb der AKWs bis zum Anschlag ihrer technischen Lebensdauer garantieren. Der 11. September mag eine weltweite Erschütterung ausgelöst haben, die in Deutschland zum Abschied von Enthaltsamkeit bei kriegerischen Unternehmungen, Nichteinmischung, Verteidigungsprinzip, Schutz der bürgerlichen Freiheitsrechte geführt hat - an der Atompolitik hat sich nichts geändert.

Behördliche Kollaboration

Wenn es noch eines Beweises für den atomkonsensuellen Schulterschluß der Behörden mit der Atomindustrie beduft hätte, dann wurde dieser jetzt vom niedersächsischen Umweltministerium nachgeliefert. Im Rahmen der Erörterungen gegen die "Zwischenlagerung" von abgebranntem Uran beim AKW Esenshamm beantwortete die Jüttner-Behörde kürzlich einen Einwand, der im Juni dieses Jahres vorgebracht worden war. Sachverhalt war, daß der Betreiber des Atommeilers, die Firma Eon, vor und während des Betriebsbeginns der Anlage in den Jahren 1976 - 1980 eine Werbebroschüre in Umlauf gebracht hatte, die gerade in den sicherheitstechnischen Fragen nicht mit Unwahrheiten geizte - auch bekannt als Lügen.

Persilschein für Tschernobyl

Unter anderem erklärt die Betreiberfirma, die sich damals noch NWK nannte (Nordwestdeutsche Kraftwerke), daß es einen schweren Unfall mit radioaktiven Freisetzungen (SuperGAU) nicht geben könne. Dazu zitiert sie Gutachten des Technischen Überwachungsvereins (TÜV), die sie so interpretiert, daß der Ausschluß nicht nur für die deutschen AKWs, sondern "für alle auf der Welt betriebenen oder in Bau befindlichen Anlagen gilt". Da die sowjetrussische Anlage von Tschernobyl zu jener Zeit in Bau war, übernahm die NWK also Gewähr für die Sicherheit des späteren Katastrophen-Reaktors. Ebenso für das amerikanische AKW Harrisburg, dessen Kern im Jahr 1979 unter Abgabe hoher Mengen Radioaktivität zusammenschmolz. Die NWK behauptete also Sachverhalte, die sich nachträglich als falsch herausstellten. Offenkundig hat sie sich nie vom Wahrheitsgehaltes ihrer Angaben überzeugt.

Atomindustrie ist unzuverläßig

Der Einwand sollte nachweisen, daß die damalige NWK und mithin die heutige Eon es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen, wenn es den Betriebsinteressen dient, und daß ihnen von daher die besondere Zuverlässigkeit abgesprochen werden müsse, die vom Atomrecht eingefordert wird. Die Antwort der Atomaufsichtsbehörde liest sich nun folgendermaßen: "Die in Rede stehende Broschüre versucht im Frage-Antwort-Stil allgemeinverständlich ein Laienpublikum über die Kernenergie zu informieren. Dabei geht die Broschüre ohne Bezug auf eine konkrete Anlage auf typische Fragen zur Kernenergienutzung ein; sie wurde jedoch durch die Betreiberin des Kernkraftwerks Unterweser nicht in atomrechtlichen Verfahren zur Errichtung und zum Betrieb der Anlage eingeführt und ist nie Grundlage für die hiesigen atomrechtlichen Prüfungen und Entscheidungen gewesen. Der Autor der Broschüre gehörte daneben nicht dem Personal des Kernkraftwerkes Unterweser an, so daß aus der Broschüre und derem Autor heraus keine Zweifel an der Zuverlässigkeit der Betreiberin begündbar sind."

Atombetreiber dürfen lügen

Wir lernen also: Atombetreiber dürfen (wie) gedruckt lügen - gegenüber einem "Laienpublikum" natürlich nur. Denn Laien verstehen keine andere Sprache, und verdienen sie auch nicht. Ob damit Menschen in falsche Sicherheiten gewiegt werden oder Mehrheiten unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zustande kommen, scheint die Behörde nicht zu interessieren und den Tatbestand der Zuverlässigkeit nicht zu berühren. Wenn Werbung lügen darf (was wir schon wußten) und atomare Sicherheitsfragen mit Werbung beantwortet werden dürfen (was wir schon ahnten), dann lautet der Schluß: Atombetreiber dürfen lügen, ohne als unzuverlässig zu gelten.

Wahre Zuverlässigkeit

Dann ist ja alles klar. Keine Zweifel mehr an der Zuverlässigkeit der Firma Eon und ihrer Atomwerbung. Höchstens noch an der Zuverlässigkeit derer, die die Zuverlässigkeit überprüfen. Aber die haben ja im Energiekonsens eine zuverlässige Grundlage.

Bleibt nur anzumerken, daß der Autor jener Broschüre dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR angehörte und sich durch Flucht absetzte. Irgendwie paradox: standen die Atomkritiker doch ständig unter dem Verdacht, ihre breite Protestbewegung sei von der DDR finanziert. Wie oft mußten sie sich sagen lassen: "Geht doch nach drüben!". Wer hätte gedacht, daß die westdeutschen Atomkonzerne viel pikantere Beziehungen nach "drüben" hatten als ihre Kritiker. Das scheint allerdings ihrer Zuverlässigkeit weder damals noch heute geschadet zu haben.

IMH

 

 
  Differenzen zur gedruckten Fassung nicht auszuschließen. Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Siehe auch Impressum dieser Ausgabe und Haupt-Impressum