Ausgabe 3/01 | Seite 2 | |||||
Kopfnoten für die LandesregierungSozialdemokratInnen rühmten sich in der Vergangenheit stets mit ihrem sozialen Engagement und demokratischen Selbstverständnis. Der Gedanke der Gleichheit, präzisiert und verwässert zugleich im Begriff der Chancengleichheit, stand ganz oben in der Prioritätenliste dieser Partei und stand Pate bei vielen Veränderungen im Sozial- und Bildungssystem der Bundesrepublik. Diesem Gedanken sind auch die bis dahin gnadenlos verteilten Kopfnoten in allen Schulzeugnissen zum Opfer gefallen. Die GEW hatte keinen geringen Anteil an der Abschaffung dieses repressiven "Erziehungsmittels", denn die Liste der Gründe ihrer Abschaffung ist lang und soll gar nicht mehr im Einzelnen aufgeführt werden. Doch nun, etwas mehr als 25 Jahre danach, kommt die SPD-Landesregierung in Niedersachsen (im Ggs. zu ihren Vorläufern in den 70ern) auf die gloriose Idee, diesen "kreativen, innovativen und realitätsbezogenen Schritt" in der Zertifizierung in Schulen zu vollziehen. Durchzuführen ist die Beurteilung des Arbeits- und Sozialverhaltens selbstverständlich von den Lehrkräften, während der Unterrichtszeit und danach, ohne Anrechnung der Mehrbelastung freilich, und unter Berücksichtigung vielfältiger Kriterien. Eine Handlungsanweisung liegt der Verordnung bei, ebenso Empfehlungen der Formulierungen und der heranzuziehenden Kriterien. Eines dieser Kriterien lautet Selbständigkeit. Ist es nicht Ziel und Aufgabe der Schule, diese Fähigkeit zu fördern, statt sie als persönliche, fast konstant wirkende Voraussetzung in einem Zeugnis zu attestieren? Und wie bitteschön kann eine Lehrkraft dieses Ziel operationalisieren und zwecks Beurteilung skalieren? Ein weiteres, nicht minder fragwürdiges Kriterium lautet Selbstbewusstsein. Paradox und absurd, kann ich nur sagen, denn, wie häufig klagen ErzieherInnen und Lehrkräfte gerade über ein zu hohes Maß an Selbstbewusstsein gerade bei problematischen Verhaltensweisen von SchülerInnen? Wäre soziales Bewusstsein und Themenorientierung nicht zumindest gleichwertig zu verfolgende Ziele? Auch hier gilt: Welchen Maßstab zur Beurteilung gibt es, der einer pädagogischen Überprüfung standhält? In diesem Kontext aber weitaus wichtiger ist die Frage, wie unterschiedlich verschiedene Lehrkräfte diese Eigenschaften und Kriterien einschätzen, hinsichtlich ihrer Entwicklungs-, ihrer Störungs- und ihrer Veränderbarkeitspotentiale, immer unter Berücksichtigung der Tatsache, daß es eine objektive, von der Persönlichkeit der Lehrkraft unabhängige Beurteilung nicht geben kann. Letzteres gilt für alle zu beurteilenden Dimensionen von SchülerInnen-Verhalten und -Persönlichkeiten. Nicht vorzustellen, was es bedeutete, wenn alle PädagogInnen ihre Aufgabe diesbezüglich wirklich ernst nähmen, jeden tag mehrfach ihre SchülerInnen-Listen zur hand nähmen und bei jedem Namen zu jedem Kriterium einen detaillierten Eintrag vornähmen. Während des Schuljahres und vor Konferenzen wären dann demokratisch (mit welcher Gewichtung?) Abstimmungen vorzunehmen, so daß unter Berücksichtigung möglichst vieler Lehrpersonen und Beobachtungsereignissen eine möglichst detaillierte und differnzierte Beurteilung der Stärken und Schwächen eineR SchülerIn am Ende steht. Pustekuchen! Es gibt nur vier anzuwendende, unterschiedlich ausgeprägte Beschreibungen. Eine Auf- bzw. Abrundung, bzw. Mehrheitsentscheidung auf eine der vier Stufen ist als Resultat im Zeugnis festzuhalten. Nach aller Erfahrung mit derlei Abstimmungen und Entscheidungsfindungen wird die Bestnote nur in absoluten Ausnahmefällen erteilt werden, ebenso die kritischste aller Kopfnoten. Sinnvoll erscheint daher der der Verordnung widersprechenden Praxis zu folgen, die Standardnote 2 oder drei zu vergeben, und nur in den sehr begründeten Abweichungsfällen eine längere Diskussion mit ggf. Kopfnote festzuhalten.
Doch wem ist damit gedient?Dem/der SchülerIn? Wohl kaum, denn am ende eines Lernjahres die Quittung für Verhalten zu bekommen, das am Anfang des Schuljahres gezeigt wurde, ist nicht pädagogisch sinnvoll, sondern höchstens ein Drohinstrument für Lehrkräfte. Lernen an der unmittelbaren Konsequenz des Handelns ist durch diese Note nicht möglich. Der Lehrkraft? Sicher, denn sie weiß jetzt, daß die Androhung dieser Note automatisch eine Besserung des Verhaltens nach sich zieht. Nicht aus Einsicht, sondern aus Angst, aber das ist egal, Hauptsache ist, daß das Ergebnis stimmt. Außerdem wird nun erst recht erkennbar, warum Lehrkräfte so viel Zeit am Schreibtisch zubringen (verbringen?), und alle Welt erkennt dies mitleidvoll an. Der Respekt vor den LehrerInnen wird endlich wieder das Niveau der 50er Jahre annehmen, und die Jugend ist weg von der Straße, fern der Droge, findet wieder Sinn im sozialen Gefüge und bereitet sich freudigen Herzens auf ihre goldene Zukunft vor. Die Wirtschaft? Nein, um Gottes Willen, die doch nicht. Die einstellenden Betriebe haben doch ohnehin schon viel zu viel zu lesen bei all den vielen BewerberInnen, die ohne Kompetenzen im elementaren Bereich der Kulturtechniken sich völlig unreflektiert für Traumberufe bewerben. Jetzt auch noch zusätzlich diese Noten lesen müssen, das kann nicht in ihrem Sinne sein. Was in der Schule passiert, hat sowieso keinen Stellenwert in der Wirtschaft, denn fast alle Unternehmen haben ihre eigenen, gut bewährten Eignungs- und Einstellungstests. Einige praktische Fälle zur Verdeutlichung: Lernziel (lt. §2 d. Nieders. Schulgesetzes) Toleranz, Solidarität, Konfliktfähigkeit: Eine Schülerin setzt das um, was im Bildungsauftrag formuliert ist und leistet an entsprechender Stelle im Schulalltag Widerstand gegen die von ihr wahrgenommene Unrecht. Die sie ins Unrecht setzende Lehrkraft benutzt die Kopfnote zur "Beurteilung" dieses Verhaltens. Gerechtigkeit hat ihre Grenzen. Man stelle sich vor, ein Jugendlicher wird 5 mal dabei erwischt, wie er bei einem nicht genannten Baumarkt Schrauben klaut. Spätestens nach der letzten Verurteilung hat er eine Jugendstrafe in Form von Arrest oder nicht unerheblicher Geldzahlung zu leisten. Die Grundsätze der Rechtsprechung in der BRD sehen es vor, daß dieser junge Mann bei Erreichen der Volljährigkeit diese Vorstrafen aus seiner Jugend nicht mehr erwähnen muß, wenn er auf seine polizeiliche Führung angesprochen wird. Resozialisierung nennt man das. Wenn der gleiche junge Mann aber statt zu klauen nur 5 mal in seinem letzten Schuljahr unentschuldigt gefehlt (geschwänzt) hätte, müsste er diese Vorstrafe noch etliche Jahre mit sich herumtragen. Das heißt Verhältnismäßigkeit der Mittel. EinE StellenbewerberIn mit dem Vermerk "Fehltage 45, davon entschuldigt: 45" muß sich ebenfalls von der Illusion verabschieden, zu einem Einstellungsgespräch eingeladen zu werden, denn nur ein Idiot von Personalchef stellt eine Person ein, bei der die Lohnfortzahlungsgrenze im letzten Schuljahr deutlich überschritten worden wäre. Das kann sich kein kaufmännisch gut geführter Betrieb ernsthaft leisten! Da spielt der Grund für das Fehlen in der Schule keine Rolle mehr. Was zählt ist die betriebswirtschaftliche Verwertbarkeit des Menschenmaterials. Lehrkräfte haben mit aller Kraft und mit allen Noten dieses Material sinnvoll auf den Leistungsprozeß vorzubereiten und eine Vorselektion durchzuführen. Bei Betrachtung des Systems von Bildung unter sozialdemokratischer Regierung fällt auf: 1. Bildung ist auf eine rein ökonomische Definition reduziert. 2. Schule dient der Wirtschaft und wird von nicht zielkonformen Details bereinigt. 3. Die staatl. Verantwortung für Bildung drückt sich in stromlinienförmiger Vorbereitung für den Erwerbsprozeß aus. ebenso in der Abbildung von Erwerbsprozessen. Dazu gehören auch die Wiederhervorhebung der alten preußischen Tugenden. 4. Integration als Prinzip in der Bildung ist aufgegeben: Es geht um Des-Integration: Lernschwache, Unwillige, "Faule", sozial Benachteiligte, MigrantInnen, Menschen mit körperl. od. geistigen Beeinträchtigungen passen nicht auf den glitzernden Arbeitsmarkt. Die will hier doch niemand, und das kann man jetzt wieder lauter sagen! 5. Die Dreigliedrigkeit des Schulsystems, der ArbeitnehmerInnenschaft, die Entsolidarisierung ist von allen Regierenden als funktionierend akzeptiert worden. Der Mensch interessiert hier nicht. 6. Bildung wird über Kosten, und nicht über Inhalte konstituiert. 7. Veränderungen in der Bildungslandschaft sind möglich, aber nur, wenn sie a) die Möglichkeit zum Sparen beinhalten und b) der Wirtschaft genehm sind Danke. Es reicht Heinz Bührmann, Öhfill Mitglied im Kreisvorstand der GEW OL, Öhfill Gewerkschaft GEW
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