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Zur real existierenden AtomenergieNoch bis vor kurzem mußten sich Journalisten bei Berichten über die Atomkatastrophe von Tschernobyl mit Opferzahlen von 20 Toten abspeisen lassen. Erst heute werden aus ukrainischen Behördenkreisen Zahlen genannt, die den wahren Folgen einer solchen massiven Freisetzung von Radioaktivität näher kommen. Eingeräumt werden 15.000 Tote, 50.000 Arbeitsunfähige und 3,5 Millionen Erkrankte. Die Zahl der Invaliden habe sich verzwölffacht, Krebs trete heute zehn Mal häufiger auf als vor dem Unglück, so die offiziellen Angaben. Zehn Jahre nach dem Ende des real existierenden Sozialismus werden nun auch die letzten potemkinschen Dörfer um Tschernobyl abgerissen, könnte man meinen. Doch Vorsicht, Anworten waren hier immer allzu schnell zur Hand. Erheblicher scheint zu sein, ob überhaupt die richtigen Fragen gestellt werden. Wie konnten die wahren Folgen des Unglücks solange vor der Welt verschleiert werden? Sind die Ursachen geklärt? Welche Lehren auch immer aus Tschernobyl gezogen werden, die erste lautet: Atomenergie ist keine politische Frage, sondern eine biologische. Die Risiken und Schäden dieser Technologie sind nicht virtuell, sondern real. Wer sie auf wirtschaftliche Aspekte reduziert, spielt nicht nur eine politische Karte aus, sondern spielt mit dem Leben von Millionen Menschen. Im Bemühen, diese Tatsachen zu vernebeln, steht die deutsche Atomindustrie der ehemals sowjetischen nichts nach. Beide leitete das gemeinsame Interesse, die Folgen herunterzuspielen, um ihre Atomprogramme nicht zu gefährden. Wer jedoch glaubt, für die Ursachen des Tschernobyl-Unglücks sei nur die schlampige sowjetische Technik verantwortlich, verkennt den westlichen, besonders den westdeutschen Einfluß auf das weltweite Vorstreben der Atomtechnologie. Die schöne Reklame-Welt der Atomindustrie zerfällt historisch in zwei Epochen, getrennt durch den Super-GAU von Tschernobyl. In den Hochglanzbroschüren der vor-tschernobylen Ära ließen sich namhafte Atomexperten, Technische Überwachungsvereine und die Bundesbehörden gern mit der Aussage zitieren, daß ihre Sicherheitsberechnungen nicht etwa nur für die deutschen Reaktoren gelten würden, sondern "für alle im Bau oder Betrieb befindlichen Kernkraftwerke auf der ganzen Welt", wie es die Preussenelektra im Jahr 1976 ausführte. Damit wollte man dem wissenschaftsgläubigen Publikum suggerieren, daß es so etwas wie eine weltweite Gemeinde der Atomingenieure gebe, die zum Nutzen der Menschheit abseits von Ideologien und politischen Konflikten eine, nur dem technisch-wissenschaftlichen Fortschritt verpflichtete, Sicherheits-Ethik kultiviert habe. Wissenschaftliche Aufsätze in deutschen Fachzeitschriften hoben die technischen Vorzüge sowjetischer Atomkraftwerke hervor, dabei wurden die Verfahrenstechnik und die Sicherheit des Reaktors vom Typ RBMK besonders gelobt - ausgerechnet am Beispiel Tschernobyl. Mit diesem Atomkraftwerk zerbrach am 26. April 1986 auch die alte Propaganda. Doch die westliche Atomlobby reagierte schnell. Kurzerhand erklärte sie sich für alle Art von Nuklearunfällen kompetent. Nach diesem Strohhalm greifend, ließ die sichtlich ratlose sowjetische Führung schon am 4. Tag der Katastrophe den Chef der internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) an den Unglücksort reisen. Hans Blix, ein schwedischer Wissenschaftler, ließ sich mit dem Hubschrauber in sicherer Höhe über den offenen Reaktor fliegen, sah die glühenden Reste des Reaktorinventars, und obwohl er genau wußte, welche ungeheure Bedrohung damit verbunden war, gab er Entwarnung. Diese Entscheidung der IAEA erfolgte noch ganz im Geiste der vor-tschernobylen Atompropaganda. Die westliche Atomlobby wollte sich nicht nachsagen lassen, sie habe bei ihren wohlwollenden Urteilen über die sowjetische Reaktortechnik keine Fakten, sondern reinen Zweckoptimismus walten lassen. Blix' "Entwarnung" war deshalb eher an den Westen gerichtet, namentlich die BRD, denn an die sowjetischen Behörden. Doch sie traf die ukrainische Bevölkerung, unterstützte sie doch die Verschleppungspolitik der sowjetischen Führung und leistete damit einen nicht unerheblichen Beitrag zur Verstrahlung der Menschen, die sich auf ihren Feldern und in ihren Dörfern sicher fühlten. Für die Befreiung aus der politischen Defensive, in die sie durch Tschernobyl gestürzt worden war, hätte die westliche Atomlobby jeden Preis bezahlt. Mit ein paar Zehntausend ukrainischen Strahlenopfern kam sie unverhofft billig davon. Im Windschatten dieser Geschehnisse errichtete die westliche Atomindustrie eine neue Doktrin, in der sich ihre angeblich so sicherheitsorientierte Atomtechnik von der schlamperten Atomkocherei des Kommunismus abhob. Dieses Dogma wurde so erfolgreich, daß heute nicht nur die Erinnerung an die Katastrophe in der Ukraine, sondern auch das Bewußtsein für die immerwährende Möglichkeit eines ähnlichen Unfalls in unseren dichtbesiedelten Regionen schwindet und die Atomdiskussion sich immer mehr auf ökonomische Aspekte einengt. Dies kommt den Verantwortlichen umso gelegener, als die bisherige Lesart der Unfallursache - hasardeurenden Reaktorfahrern sei ein Kunstfehler unterlaufen - ins Wanken gerät. Bestätigt sich, was immer mehr Experten rund um den Globus annehmen und was auch den wahren Folgen des Super-GAU entspricht, dann steht die Atomlobby weltweit erneut am Pranger. Danach war es ein vergleichsweise geringes Erdbeben, das die Katastrophe einleitet. Damit entfiele nicht nur die Posttschernobyl-Doktrin von der maroden Russentechnik, sondern der Gefahrenfinger würde sich weltweit auf viele Atomkraftwerk richten, denn fast alle stehen an Flüssen, und die meisten dieser Gewässer verlaufen auf den Trennlinien tektonischer Platten. Doch muß man befürchten, daß sich nicht die kritischen Experten durchsetzen, genauso wenig, wie heute die Opferwilligkeit der ukrainischen Aufräummannschaften gewürdigt wird. Stattdessen darf die Atomindustrie im entfesselten Neoliberalismus ungehindert expandieren und der Politik ihre Forderungen diktieren, genau so, wie man Herrn Blix, mitverantworflich für den Tod Zehntausender von UkrainerInnen, nicht entläßt oder gar den Prozeß macht, sondern ihn zum Chef der UN-Waffenkontrolleure im Irak ernennt. Ingo Harms
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