Oldenburger STACHEL Ausgabe 1/00      Seite 12
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Radio-Frequenzen für Oldenburg

Selbstdarstellung der AGGPG

Die Arbeitsgruppe gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie (AGGPG) gründete sich am 8. März 1996 nach einer Diskussionsrunde zur genitalen Verstümmelung in afrikanischen Ländern. Dort zeigte sich die Notwendigkeit, spezifisch auf die Situation intersexueller Menschen (dem Volksmund als Zwitter oder Hermaphroditen bekannt), vor allem von Kindern, hinweisen zu müssen.

Beteiligt an der Gründung waren zunächst Heike Bödeker und Michel Reiter, welche beide kurz nach Geburt einer langjährigen medizinischen Prozedur ausgesetzt wurden mit dem Ziel, eindeutig einem Geschlecht zuzugehören und diese Zuweisung als Erwachsene ablegten. Sie verstehen sich heute weder als Frauen noch Männer, sondern haben normative Geschlechtervorstellungen ähnlich einer nicht annehmbaren Hülle abgestriffen. Zwischenzeitlichen haben personelle Wechsel stattgefunden.

Die AGGPG ist keine feste Gruppe oder ein e.V., sondern eine non-profit Initiative ohne zweckgebundene Finanzmittel zur Wahrung der Autonomie mit Website und Kontaktmöglichkeit.

Zur Ausgangslage

Wenn ein Kind geboren wird, dessen somatisches Geschlecht nicht klar für die Hebamme / den Arzt einzuordnen ist, spricht der medizinische Diskurs von Intersexualität im engeren Sinne. Gesellschaftliche Normvorgaben und Stigmaängste der Eltern führen zu der präkeren Situation sich im Zwang zu sehen, das Kind geschlechtlich vereindeutigen zu müssen als auch Ärzte (vorrangig Endokrinologie und Chirurgie) mit dieser Aufgabe monetäre Vorteile, Prestige und Machbarkeitsphantasien verbinden können. Die Eingriffe sind langwierig, äußerst schmerzhaft und im medizinischen Sinne nicht notwendig. Sie verursachen irreversible körperliche Schäden und garantieren keinen Erfolg sowohl hinsichtlich Operationsergebnis als auch Geschlechtsidentität. Untersuchungen aus Qualitätskontrollen liegen international kaum vor und vorhandene Ergebnisse sprechen durchweg eggen Eingriffe. Binnen intersexueller Kreise wird die Prozedur als Folter beschrieben und suizidale Überlegungen sind üblich.

Dieser stark verkürzt wiedergegebenen Ausgangslage liegen zwei Elemente zugrunde: - Die körperliche Existenz mehr als zweier Geschlechter (wie sie heute verstanden werden als Konglomerat aus Chromosomensatz, primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen) ist nicht selten (Angaben variieren zwischen 0,5% und 4% der Gesamtbevölkerung). - Es findet kein adäquater sozialer Umgang statt, sondern eine Negation der Existenz und Abgabe an die Medizin zur Korrektur. Somit schließt sich ein Kreislauf, der Lobbyarbeit stark erschwert.

Angebote

Entgegen gesellschaftlichem Trend, Geschlechtervielfalt zu präsentieren (Christopher Street Day, Gleichberechtigung der Frau, Androgynie in der Werbung u.a.m.) stößt eine Dekonstruktion des biologisch-bipolar konstruierten Geschlechtes nicht auf breite Resonanz.

Auf theoretischer Ebene finden jedoch Diskussionen zum Medizinmanagement, den ethischen Implikationen der Eingriffe und juristischer Reglementierung statt. Für Eltern, die nicht alleine den medizinischen Aussagen folgen und éblind' einwilligen wollen, gibt es somit seitens der AGGPG allgemeine Informations- sowie in sinnvollem Rahmen Beratungsmöglichkeiten als auch für erwachsene Intersexen zunehmend Vernetzungspotentiale entstehen, vor allem via Internet und email.

Die Initiative ist keine Selbsthilfegruppe, sie kann und will für andere keine Entscheidungen fällen. Auch versteht sie sich nicht als Konsum-, Delegations- und Dienstleistungsunternehmen.

Öffentlich werden Vorträge gehalten, Interviews gegeben, Broschüren und Flyer erarbeitet. Die Kapazitätsgrenzen sind mit der Anzahl aktiver MitarbeiterInnen verknüpft. Thematisch ist das Feld sehr weit und komplex.

Theoretische Verortung und Perspektiven

Die AGGPG distanziert sich theoretisch sowohl von Körper-, Rasse- und Geschlechternormen als sie auch auf Mängel medizinischer und sozialkonstruktionistischer Diskurse hinweist. Intersexualität wird nicht als drittes Geschlecht verstanden, aber es wird auf jene in der Humanwissenschaft vorgefundenen ca. 4000 Geschlechtervarianten verwiesen. Eine Ontologie wird dergestalt nicht grundsätzlich in Frage gestellt, aber Idee und Vorgehen der Reduktion auf zwei Geschlechter scharf kritisiert. Damit steht die theoretische Positionierung außerhalb üblicher Geschlechterdiskurse, welche stark verkürzt wiedergegeben entweder eine Essenz des weiblichen / männlichen Körpers postulieren oder alle Geschlechter einem hegemonialen Diskurs untergeordnet sehen. Realistische Entwürfe müssen sowohl eine ontische Pluralität, diskursive Herstellung der Bipolarität als auch Lebensentwürfe außerhalb vorgesehener Strukturen einbeziehen. In wissenschaftlicher Hinsicht kommt dies einem Paradigmenwechsel gleich und zieht radikale Konsequenzen nach sich.

Perspektivisch stehen weitere Forschungsfragen offen (z.B. Ermittlung historischer Zwitter - Jeanne D'Arc und Paracelsus gelten als gesichert, Elisabeth I und Alfred Nobell werden vermutet; das Kloster als sicheren Ort aufzusuchen und damit auch eine Nähe zu den Wissenschaften herzustellen war für Menschen, die geschlechtliche Normen nicht erfüllten, üblich - als auch Untersuchung des Einflusses nationalsozialistischen Gedankengutes an medizinischer Ideologie und konkreter Forschung seit 1950). Geplant sind Buchveröffentlichung und Dokumentarfilm als auch Irritationen im Kontext normativer Restriktionen, etwa im schulischen Sexualkunde- und Genetikunterricht oder auf medizinischen und sexualpolitischen Versammlungen, hervorzurufen.

Zum Einlesen in diese für viele LeserInnen neuen Informationen empfehlen sich u.a. die Texte der Webseiten mit weiteren Links sowie Literatur: Suzanne J. Kessler (1998): Lessons from the intersexed. Ruttgers University Press - Alice D. Dreger (1998): Hermaphrodites and the medical invention of sex. Havard University Press - Michel Foucault (1998): Über Hermaphrodismus. Suhrkamp - Bernice L. Hausman (1995): Changing sex (v.a. Kapitel 3). Duke University Press

AGGPG

Kontakt (bitte mit Rückporto): AGGPG, Brandtstraße 30, 28215 Bremen, E-mail: aggpg@t-online.de, Webseite: http://home.t-online.de/home/aggpg

 

 
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